DOCUMENT 127 DECEMBER 1901 323 ankomme (Die muß fast so viel haben wie wir beide, meinst nicht auch?) Auch solle er ihr nicht noch Kummer & Aufregung verursachen, sie habe wahrlich davon genug (ihr Mann ist nämlich im August plötzlich verrückt geworden). Ich riet ihm daher, auf den Plan zu verzichten. Zudem war Gefahr vorhanden, ich könnte, wenn ich auf dem Plan verharrt wäre, zwischen zwei Stühle zu sitzen kommen. Denk, wie gräßlich wir da in der Patsche gewesen wären! Ich beschloß daher, mirs hier so wohnlich als möglich einzurichten. Ich ging daher zu N[üesch][5] und sagte ihm, er solle mir das Geld zum Essen geben, damit ich eventuell noch eine kleine Ersparnis machen könne. Er sagte, indem er rot vor Zorn wurde, er werde sichs überlegen. Dann hielt er Rat mit seiner saubern Frau Gemahlin.[6] Als ich am Abend wieder kam, war er sehr batzig und sagte mit Autoritätsmine: "Sie kennen unsere Bedingungen, es besteht kein Grund, davon abzuweichen. Sie können mit Ihrer Behandlung recht zufrieden sein". Da sagte ich: "Gut, wie sie wollen, für den Augenblick muß ich nach- geben-ich werde schon Existenzbedingungen zu finden wissen, die mir besser passen". (Denk wie frech, in meiner Lage!)[7] Er verstand dies und wurde sofort mürbe. Er merkte, daß es mir weniger auf eine Ersparnis ankomme als darauf, nicht mehr mit ihm und seiner saubern Familie[8] speisen zu wollen, verschlang seine Wut, und sagte mit möglichst sanfter Stimme: "Wären Sie zufrieden, wenn ich Ihnen irgendwo das Essen nähme, in einem Gasthaus?" Ich verstand sofort, warum er das wollte-damit man ihm nicht nachrechnen kann, wie viel er von den für mich ausgesetzten 4000 fr. stiehlt. Ich bejahte also vergnügt und empfahl mich mit der Bemerkung, daß er es möglichst schnell einrichten solle, ich hatte ja meinen Zweck erreicht. Die Leute sind nun schäumend vor Wut gegen mich, aber ich bin jetzt eben so frei wie jeder andere Mensch. Heut hab ich schon dort gegessen, es ist sehr gemütlich dort, ich habe schon ganz nette Gesellschaft in Gestalt zweier junger Apotheker dort gefunden. Es lebe die Unverfrorenheit! Sie ist mein Schutzengel in dieser Welt. Gestern, als ich just vor dem Abonnementskonzert,[9] bei dem ich mitspielte zum letzten Abendmahl im Hause N. vergnüglich eintrat, lag im Suppenteller ein Brief von Marcelius,[10] ein sehr lieber Brief, in dem er mir sagt, daß die Stelle in Bern nun in den nächsten Wochen ausgeschrieben werde,[11] und daß er bestimmt glaube, daß ich sie kriege. In 2 Monaten wären wir dann plötzlich in glänzenden Verhältnissen und hätten ausgekämpft. Mir schwindelt vor [5] Jakob Nüesch. [6] Bertha Nüesch (1847-1917). [7] The preceding sentence is interlineated. [8] The Nüeschs had four children. [9] The second subscription concert of the season (see the advertisement in Tage-Blatt für den Kanton Schaffhausen 61, no. 265 (12 November 1901), p. [4]). [10] Marcel Grossmann. [11] A vacancy at the Swiss Patent Office was advertised on 11 December (see Doc. 129).
Previous Page Next Page