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155. To Hendrik A. Lorentz
Hechingen (Süddeutschland). [after 25 September
1920][1]
Hoch verehrter Herr Lorentz!
Ihr ausführlicher
Brief[2]
hat mich sehr
gerührt.[3]
Jenes amerikanische Preisaus-
schreiben war mir schon bekannt
geworden.[4]
Der Urheber selbst hat mir die Aus-
schreibung zugesandt. Ich muss aber gestehen, dass ich mich sofort dazu entschlos-
sen habe, an dieser Konkurrenz nicht teilzunehmen. Erstens nämlich tanze ich nicht
gerne um das goldene Kalb und zweitens habe ich zu dieser Art Tanz so wenig Be-
gabung, dass ich wohl schwerlich Beifall damit finden würde. Eigentliche Sorgen
aus Geldmangel habe ich übrigens keineswegs. Wenn es unbedingt nötig wird, las-
se ich meine frühere Frau mit den Kindern nach Deutschland übersiedeln; bis jetzt
hat es sich noch umgehen
lassen.[5]
In letzter Zeit hatte ich Anfeindungen verschiedenster Art zu erdulden, haupt-
sächlich durch die
Zeitungen.[6]
Dies ist aber nicht zu bedauern, denn es ist eine
Gelegenheit, um die ächten Freunde von den unsichern zu unterscheiden. Merk-
würdig ist, dass in dieser Zeit jede Wertung nach politischen Gesichtspunkten voll-
zogen
wird.[7]
Die Naturforscherversammlung brachte nichts Neues von erheblicher Bedeu-
tung,[8]
zeigte aber doch, dass das Interesse für die reine Wissenschaft trotz Krieg
und materieller Krise sehr lebhaft geblieben ist. Sonst hat sich doch manches ge-
ändert. Die Gemüter sind von allem Erlebten so plastisch, dass ein bedeutender
Staatsmann Grosses schaffen könnte; ich denke an die vereinigten Staaten Euro-
pas.[9]
Es ist ein Unglück, dass in Frankreich oder England jetzt kein umfassender,
grosszügiger Mann an der Spitze ist, der mehr im Auge hat als das momentane ma-
terielle Interesse seines engeren
Vaterlandes.[10]
In den nächsten vierzehn Tagen bin ich mit meinen Buben hier in Süddeutsch-
land zusammen, eine seltene Freude, von der ich schon lange erfüllt bin. Dann
komme ich nach Holland, um die Antrittsvorlesung zu halten. Ich schäme mich
sehr wenn ich daran denke, wieviel Mühe Sie und Kamerlingh-Onnes meinethal-
ben gehabt
haben;[11]
aber ich gebe mich der freudigen Hoffnung hin, dass die Er-
innerung daran Ihre herzliche Gesinnung gegen mich nicht stören kann.
In der Hoffnung, Sie und Ihre
Frau[12]
gesund und froh anzutreffen und mit Ih-
nen ein Stündchen über physikalische Dinge plaudern zu können (auch über Ihre
Andeutungen zu Eddingtons
Buch)[13]
bin ich mit herzlichem Gruss Ihr ganz erge-
bener
A. Einstein.
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