216 DOCUMENT 45 MARCH 1899 zum Fresen. Ja so-das Brieferl wird auch noch nach berühmten Mustern ins Muster fürs Muster gesteckt-frisch gewagt ist halb gewonnen. Zuhause gehts mir famos ich habe die Zeit sehr viel mit den innerlichsten Freuden zugebracht, das heißt, recht viel gegessen & recht gut, so daß ich auch schon ein wenig an unserm poetischen Lieblingsleiden gelitten habe, wie damals, als ich bei Sterns[2] Stunden lang neben meiner berückenden, lieb- reizenden Tischnachbarin gesessen war. Damals hat sich mir in grellen Farben geoffenbart, wie nahe unser psychisches & physiologisches Leben verknüpft ist. Auf der Reise war es sehr nett, trotzdem leider lauter männliche Wesen im Wagen waren. Da waren so ein paar nette frische italienische Jungens, die miteinander sangen & lachten & scherzten, so halb wie junge Mädchen, halb wie junge Hunde. In Chiasso[3] ist mirs gut gegangen. Der Kerl hat doch nichts rechts, hat sich halt der schlaue Beamte gedacht. Während ich mich dann auf der ferneren Reise mit einem jungen Mann über italienische Ver- hältnisse angelegentlichst unterhielt, bemühte sich ein zum ersten Male nach Italien reisender deutscher Jüngling & Handelsbeflissener, die paar itali- enischen Gelegenheitsbröcklein, die er sich eigens zu diesem Zweck ange- schnallt hatte, möglichst elegant & ungezwungen an den Mann zu bringen. Das war gerade, wie wenn einer mit einer Trompete, die nur 2 Töne hat, in einem Orchester mitblasen wollte & immer sehnsüchtig wartet, bis er wieder einen davon ertönen lassen kann. Ihre Photographie hat bei meiner Alten großen Effekt gemacht. Während sie in der Betrachtung versunken war sagte ich [noch?] dazu sehr verständnis- innig: Ja, ja, die ist halt ein gescheidtes Luder. Dafür & für ähnliches hab ich schon ziemlich Neckereien auszustehen, was mir aber gar nicht unangenehm ist. Meine Grübeleien über die Strahlung fangen nun an, etwas mehr Grund & Boden zu kriegen-ich bin selbst neugierig, ob was draus werden will. Seien Sie herzlich gegrüßt u.s.w., letzteres besonders, von Ihrem Albert. Gruß von meiner Alten. ALS (CLE). [1] Dated on the assumption that the letter was written on the first or second Monday after the end of lectures for the winter semes- ter of 1898-1899 (see ETH Programm 1898b, p. [3]). [2] Alfred Stern was Professor of History at the ETH. It is likely that the Ansbacher family of Milan, close friends of both the Einstein and Stern families, introduced Einstein to the Sterns (see Kayser 1930, p. 54). Einstein was a frequent guest in the Stern household (see Doc. 66). [3] The Swiss border crossing on the Zurich- Milan railroad line.
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