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ren. Gäbe es nicht praktisch starre Körper, die miteinander zur Deckung gebracht
werden können, so sprächen wir nicht von der Kongruenz von Strecken, Dreiecken
etc. Es ist klar, dass die Geometrie für den Physiker überhaupt erst dadurch Bedeu-
tung gewinnt, dass er jenen Grundbegriffen Naturdinge zuordnet, z. B. dem Begriff
der Strecke einen mit zwei Marken versehenen praktisch starren Körper. Umge-
kehrt wird durch diese Zuordnung die euklidische Geometrie zu einer Erfahrungs-
wissenschaft im eigentlichen Sinne, wie etwa die Mechanik. Ihre Sätze können
dann im gleichen Sinne durch die Erfahrung bestätigt und widerlegt werden wie die
Sätze der letzteren. In diesem Sinne war auch unser vorhin gewonnenes Resultat zu
deuten, dass auf der rotierenden Kreisscheibe die euklidische Geometrie der Ebene
nicht gelte.
Für die Physik ist die euklidische Geometrie besonders in ihrer analytischen Ge-
stalt von Wichtigkeit geworden, die wir Deskartes verdanken. Diese Umbildung
der Lehre Euklids war möglich durch die Erfindung des kartesischen Koordinaten-
systems, dessen physikalische Deutung wir schon betrachtet haben. Seine Einfüh-
rung ist (z. B. in der ebenen Geometrie) dadurch möglich, dass man die Ebene mit
einem Netz von Quadraten überziehen kann, deren Seiten aus lauter gleichen, d. h.
miteinander zur Deckung zu bringenden Stäbchen bestehen. Man kann nämlich
von einem willkürlichen Netzpunkte aus jeden anderen Netzpunkt durch zwei Zah-
len (Koordinaten) vollständig charakterisieren. Die Koordinaten haben also eine
unmittelbare physikalische Bedeutung.
Gauss stellte sich nun die Aufgabe, in analoger Weise eine analytische Geome-
trie auf einer beliebig gegebenen krummen Fläche aufzustellen. Dazu müssen vor
allem die Punkte der Fläche durch Zahlen (Koordinaten) charakterisiert werden.
Aber da zeigt sich, dass es hier kein quadratisches Netz gibt, welches zur Definition
kartesischer Koordinaten dienen könnte. Dies kommt daher, dass auf einer krum-
men Fläche die Gesetze für die Lagerung starrer Stäbchen nicht durch die ebene
euklidische Strecken-Geometrie gegeben sind. Kartesische Flächen-Koordinaten
auf einer krummen Fläche (z. B. Ellipsoidfläche, Kugelfläche) gibt es also nicht.
Was aber auch auf der krummen Fläche noch existiert, das ist der Abstand ds be-
nachbarter Punkte, wie er durch einen starren Massstab gemessen werden kann.
Auf diesen Begriff muss auch die Geometrie der krummen Fläche sich stützen, nur
dass der Zusammenhang welcher in der Ebene zwischen karte-
sischen Koordinaten-Differentialen und Elementarabstand besteht, auf krummen
Flächen wegfällt.
Die Möglichkeit der Einführung kartesischer Koordinaten in der Ebene beruht
auf der Existenz von zu einander senkrechten Systemen paralleler Geraden, welche
nach ihrem Abstande numeriert werden können. Auf der krummen Fläche aber gibt
es kein ávollwertigesñ Analogon paralleler Geraden. Gauss bedient sich deshalb
[p. 30]
ds2 dx2 dy2 , + =
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