D O C . 3 4 A S S I M I L AT I O N A N D A N T I - S E M I T I S M 2 8 9
34. “Assimilation and Anti-Semitism”
[3 April
1920][1]
Assimilation und Antisemitismus.[2]
Wenn ein Verängstigter oder Streberhafter unter meinen Stammesgenossen sich
veranlasst oder genötigt sieht, sich als Sohn seiner Väter zu bekennen, so bezeich-
net er sich—wenn er nicht etwa getauft ist—wohl als einen „deutschen Staatsbür-
ger mosaischen
Glaubens“.[3]
In dieser
Bezeichnung[4]
liegt etwas Komisches, ja
Tragikomisches, wie wir unmittelbar empfinden. Woran liegt’s? Es ist leicht zu se-
hen. Charakteristisch für den Mann ist garnicht sein Glaube, mit dem es in den
meisten Fällen nicht weit her ist, sondern seine Zugehörigkeit zur jüdischen
Nationalität.[5]
Dies ist es eben, was er in seinem Bekenntnis nicht bekennen will.
Es spricht vom Glauben, statt von der Stammenzugehörigkeit, von „mosaisch“ statt
„jüdisch“, weil das letztere ihm viel geläufigere Wort die Zugehörigkeit zu seinem
Stamme betonen würde. Endlich ist die breitspurige Bezeichnung „deutscher
Staatsbürger“ lächerlich, weil ja doch so ziemlich jeder Mensch, den man hierzu-
lande auf der Strasse trifft, ein „deutscher Staatsbürger“ ist. Wenn also unser Held
nicht auf den Kopf gefallen ist,—und das ist er tatsächlich recht selten—so muss
eine besondere Absicht dahinter stecken. Ja natürlich! Aufgescheucht durch häufi-
ge üble Nachreden will er damit diskret beteuern, dass er ein guter und pflichttreuer
deutscher Staatsbürger sei, trotzdem er des „mosaischen Glaubens“ wegen sein
langes Leben hindurch meist nicht wenig von „deutschen Staatsbürgern“ geplagt
wird.[6]
Ich habe oben der Kürze halber das Wort „jüdische Nationalität“ gebraucht, in
dem Gefühl, dass es auf Widerstand stossen kann. Nationalität ist eines derjenigen
Schlagwörter, auf die heutzutage das Temperament heftig reagiert, mit dem der
Verstand aber weniger sicher umzugehen vermag. Wenn jemandem dieses Wort für
unseren Fall nicht passt, mag er ein anderes wählen, aber ich kann leicht umschrei-
ben, was in unserem Falle damit gemeint ist.
Schon wenn das jüdische Kind zur Schule kommt, merkt es gar bald, dass es sich
von den anderen Kindern unterscheidet, und dass diese es nicht als ihresgleichen
behandeln. Dieses Anderssein liegt ja in der Abstammung begründet; es beruht kei-
neswegs nur auf der religiösen Zugehörigkeit und auf gewissen Besonderheiten der
Tradition. Schon die Zeichnung seines Gesichtes charakterisiert das jüdische Kind
als etwas Fremdes, und seine Mitschüler sind sehr empfänglich für die in Betracht
kommenden
Merkmale.[7]
Das Gefühl der Fremdheit bringt sehr leicht eine gewis-
se Feindseligkeit mit sich, besonders, wenn mehrere jüdische Kinder in der Klasse
[p. 1]
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