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ich unter dem Titel „Merkwürdige Gaben eines Wiener Kindes“ im Neuen Wiener
Journal Nr. 8427 von Dienstag den 17. April 1917 Seite 5 gefunden habe. Doch
konnte mir kein Buchhändler den Verlag ausfindig machen und das Buch verschaf-
fen. An die Verfasserin mochte ich mich nicht wenden. Denn ihr Tagebuch hatte
mir im MS vorgelegen, und ich hatte es ihr mit ein paar höflichen Zeilen nach Lek-
türe retourniert. Aus der erwähnten Besprechung im Neuen Wiener Journal geht
aber hervor, dass sie meinen Brief ohne Erlaubnis als Vorwort benützt und dadurch
den Anschein erweckt hat, als ob ich ihre Beobachtungen bezeugen wollte.
Der Fall selbst besteht in folgenden, mit größter Vorsicht aufzunehmenden „Tat-
sachen“: ohne seinen Vater je gekannt zu haben, sprach das Söhnchen der Frau Ida
Gutmann im zartesten Alter einige seiner häufigst gebrauchten Redensarten wie
„Jessas“ („Jesus“), „Na net“ („Nein nicht“, soviel wie justament) in genau demsel-
ben Tonfall und Dialekt wie sein Vater, auch von denselben Gesten begleitet.
Auch meine zweite Aeußerung, die Herr Graf Arco als Lesefrucht aufnahm, hat
er aus seiner Erinnerung nicht richtig reproduziert. Er meint offenbar eine Stelle,
die ich Ihnen anstreiche und zusende, wo gesagt ist, dass die Züchter im Irrtum
sind, wenn sie meinen, alles sei ihrer Zuchtwahl zu danken, was sie bei ihren Züch-
tungen herausbekommen. Vielmehr sei die Funktion des herausgezüchteten Merk-
males das Wesentliche. Mindestens könne dieser Einfluss nicht ausgeschaltet wer-
den; und da andere Versuche (Johannsen, in diesem Punkte sicher unparteilich,
denn er ist einer der bittersten Gegner der Lehre von der Vererbung erworbener
Eigenschaften)[2]
und der gesamte Mendelismus bezeugen, dass Selektion schöp-
ferisch durchaus unwirksam ist, sondern nur als Eliminations- und Verbreitungs-
faktor wirksam ist, so bleiben eben nur die Lebens- und Funktionsbedingungen üb-
rig. Deutlich ist dies bei der Zucht edler Rennpferde und bei derjenigen ergiebigster
Milchkühe der Fall: denn man wählt ja nicht bloß die besten Renner aus, sondern
man erprobt doch auch ihre Fähigkeit und lässt sie ausgiebig rennen; man wählt
nicht bloß Kuh wie Stier aus gut milchender Verwandtschaft, sondern man melkt
sie auch ausnützend, sonst wäre man ja gar nicht in der Lage, die Eigenschaft, auf
die es so sehr ankommt, zu konstatieren.
Das beste Buch über Vererbung erworbener Eigenschaften ist von Richard Se-
mon, “Das Problem der V. erw. Eig.”, Leipzig, Engelmann,
1912.[3]
Dort sind auch
meine Ergebnisse ausgezeichnet und kritisch referiert, sowie den Einwendungen
meiner Gegner gegenübergehalten. Einige seither neu erschienene Arbeiten schik-
ke ich Ihnen mit etwas späterer Post
zu.[4]
Gestatten Sie mir noch eine Bitte: neulich sah ich bei Popper-Lynkeus eine schö-
ne Photographie von Ihnen mit
Widmung.[5]
Ich wäre Ihnen ungemein dankbar,
wenn Sie mir eine ebensolche oder ähnliche verehren wollten.
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