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44. From Friedrich Carl von Siemens[1]
Berlin NW 6, Schiffbauerdamm 15, 10. Februar 1921.
Hochgeehrter Herr Professor,
ich bitte Euer Hochwohlgeboren, mir gestatten zu wollen, zur Kritik meines
Aufsatzes „Im Zeitalter der Kohle“ Stellung nehmen zu dürfen, die kürzlich in dem
interessanten Buche Alexander Moszkowskis „Einstein, Einblicke in seine Gedan-
kenwelt“ zum Ausdruck gekommen
ist.[2]
Wenn es sich bloss darum handeln wür-
de, meine persönliche Ansicht zu rechtfertigen, so würde ich trotz des begreiflichen
Wunsches, gerade von Ihnen nicht ungerecht beurteilt zu werden, diese Zeilen
nicht schreiben, sondern würde den Schild respektieren, den Herr Moszkowski in
der Einleitung seines Buches über Sie
hält.[3]
Es liegt aber noch ein schwerwiegen-
derer Grund vor, der dafür spricht, den Versuch zu machen, etwaige Missverständ-
nisse bezüglich meiner Kohleleitsätze zu tilgen, und zwar handelt es sich darum,
dass die richtige und möglichst weittragende Einschätzung der Kohle für das deut-
sche Wirtschaftsleben der Gegenwart und der Zukunft eine so grosse Notwendig-
keit ist, dass jede Abschwächung dieser Tragweite nur verderblich für unser
Vaterland sein kann.
In diesem Sinne war meine Arbeit über Kohle auch eine Tendenzschrift, und ich
glaubte, dies unter Hinweis auf die mancherlei Abstraktionen, die ich machen mus-
ste, auch hinlänglich zum Ausdruck gebracht zu haben. Ich gestatte mir übrigens,
einen Sonderabdruck genannter Arbeit, des leichteren Verständnisses meiner Aus-
führungen halber diesem Schreiben beizulegen.
Ihre Kritik meiner Ausführungen scheint mir hauptsächlich darauf zu beruhen,
dass Sie das Problem der Kohle, um mit Moszkowski zu reden, planetar auffassen,
während ich meine Ausführungen, entsprechend der Absicht, volkswirtschaftlich
wirken zu wollen, speziell auf das Kohleproblem mit Wirkung auf Deutschlands
Organismus gemacht habe. So erklärt es sich auch, dass Sie zwar mit den von mir
aufgestellten Prämissen, die planetar sind, einverstanden sind, jedoch nicht mit den
Folgerungen, die sich speziell auf Deutschland beziehen.
Die erste Prämisse ist, dass uns die Sonnenenergie, gleichgiltig in welcher Form,
als einzige Energiequelle zur Verfügung steht und dass folglich menschliche Arbeit
immer nur ein, mit einem Wirkungsgrad belasteter, Abbau der Sonnenenergie sein
kann. Die zweite Prämisse, die sich nur auf Deutschland bezieht, ist die, dass bei
der grossen Uebervölkerung, der geringen Insolation, dem ausgemergelten Boden
und den hohen Lebensansprüchen der Einwohner die Sonnenenergie in Form der
Kohle, so sehr alle anderen Sonnenenergieformen überwiegt, dass man keinen
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