354 DOC. 231 WARBURG AS RESEARCHER DIE NATURWISSENSCHAFTEN Zehnter Jahrgang. 22. September 1922. Heft 38. [1] Emil Warburg als Forscher. Von Albert Einstein, Berlin. Letzten April ist Emil Warburg von der Leitung der Physikalisch-Technischen Reichs- anstalt zurückgetreten, ein Mann, der seit fünfundfünfzig Jahren mit zäher Kraft und viel- seitiger Begabung erfolgreich an der Entwick- lung der Physik mitarbeitet. Ist es berechtigt, aus dem organischen Bau und Wachstum der Wissenschaft die Geschichte eines Ein- zelnen herauszuheben? Ist dessen Tätigkeit nicht so eng verflochten mit der Arbeit der Vor- gänger und Zeitgenossen, daß es wie eine Art Zufall anzusehen ist, ob ein ins Auge gefaßter Schritt von dem einen oder dem andern Indivi- duum zuerst gemacht worden ist? Der Gehalt einer Wissenschaft läßt sich ohne Zweifel be- greifen und beurteilen ohne Eingehen auf die individuelle Entwicklung derer, die sie geschaffen haben. Aber bei solcher einseitig objektiven [2] Darstellung erscheinen die einzelnen Schritte manchmal wie vom Zufall gelenkt. Das Ver- ständnis dafür, wie diese Schritte möglich, ja nötig waren, erlangt man erst durch Verfolgung der geistigen Entwicklung der Individuen, die richtunggebend mitgearbeitet haben. Von diesem Gesichtspunkt aus wollen wir die Arbeit unseres Zeitgenossen zu überblicken suchen. Dabei müssen wir uns aber auf das heute als besonders [3] wichtig Erscheinende beschränken denn die vier stattlichen Bände Warburgscher Originalarbeiten, welche vor mir liegen, betreffen die verschieden- sten Themen der Physik und lassen sich nicht alle zwanglos unter einheitliche Gesichtspunkte bringen, was doch für unsere Übersicht unerläß- lich ist. Dafür sei aber das Verzeichnis der Ar- beiten z. T. mit kurzer Andeutung über den In- halt am Schlusse dieses Aufsatzes angegeben, die dem Fachmann die Benutzung von E. Warburgs reichen Arbeitsergebnissen erleichtert. Warburgs erste Arbeiten (auch die lateinische Dissertation 1868) beschäftigen sich theoretisch und experimentell mit der Mechanik der akusti- schen Schwingungen (Schwingungen von Stäben, Bestimmung der Schallgeschwindigkeit in weichen Körpern durch Kopplung solcher mit nahezu ungedämpft schwingenden Systemen. Reversible oszillatorische Änderung der Magneti- sierung von Eisenstäben durch Schwingungsdefor- mationen Erwärmung durch Schallschwin- gungen Dämpfung der Töne fester Körper durch innere Widerstände). 1870 zeigte Warburg durch Versuche über den Ausfluß des Quecksilbers aus gläsernen Kapillar- röhren, daß beim Strömen des Quecksilbers eine Gleitung des Quecksilbers am Glase nicht in beobachtbarem Betrage stattfindet. Diese Arbeit liefert den natürlichen Ausgangspunkt zu einer wichtigen Untersuchung, die Warburg 1875 zu- sammen mit A. Kundt der Berl. Akad. d. W. durch Helmholtz vorlegen ließ (Über Reibung und Wärmeleitung verdünnter Gase). Während näm- lich bei strömenden Flüssigkeiten eine merkliche Gleitung der an die Wand unmittelbar grenzen- den Schicht nicht stattfindet, wird eine wahr- nehmbare Gleitung bei Gasen von der kinetischen Gastheorie verlangt in dem Falle, daß die freie Weglänge der Gasmoleküle gegenüber den in Betracht kommenden Gefäßdimensionen nicht praktisch zu vernachlässigen ist. Es herrscht nach der Theorie an der Wand noch eine Strömungs- geschwindigkeit des Gases, welche ohne das Gleitungsphänomen in einer Entfernung 0,7 X Q = freie Weglänge im Gase) von der Wand stattfinden würde. An der Wand findet also eine unstetige Änderung der Strömungsgeschwindig- keit statt, die desto größer ist, je größer die Weg- länge, d. h. je kleiner die Dichte des Gases ist. Die Erklärung dieses Phänomens ist einfach. Die in thermischer Agitation befindlichen Mole- küle, welche an die Wand stoßen, sind in einer tieferen Schicht zum letztenmal zusammen- gestoßen, haben also eine mittlere einseitige Translationsgeschwindigkeit (Strömung) parallel der Wand. Nach dem Zusammenstoß mit der Wand haben sie im Mittel keine Strömungs- geschwindigkeit mehr. Im Mittel haben also die der ruhenden Wand unmittelbar benachbarten Moleküle eine von Null verschiedene Strömungs- geschwindigkeit (scheinbare Gleitung). Durch eine ganz ähnliche Überlegung findet man, daß an einer Wand ein Temperatursprung zwischen Wand und Gas stattfinden muß, wenn senkrecht zur Wand ein Temperaturgefälle (Wärmestrom) existiert. Die Gastemperatur an der Wand muß so sein, wie wenn sie ohne Tempe- ratursprung in einer Entfernung 0,7 A von der Wand herrschen müßte Die Existenz beider Effekte wurde von Kundt und Warburg experimentell einwandfrei bewiesen, wichtige Argumente dafür, daß die kinetische Gastheorie der Wirklichkeit entspricht. Es war das erste Mal, daß auf Grund der molekularen Theorie der Wärme ein neues Phänomen voraus- gesagt worden war, und zwar ein Phänomen, dessen Darstellung auf Grund der kontinuier- lichen Auffassung der Materie so gut wie aus- geschlossen war. Hätten die Energetiker am Ende des 19. Jahrhunderts diese Argumente ge- 105 Nw. 1922.
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