5 0 2 D O C U M E N T 3 4 8 S E P T E M B E R 1 9 2 2 348. To Henry N. Brailsford Berlin, den 11. Sept. 22. Sehr geehrter Herr Brailsford! Sie hatten die Freundlichkeit, einige Anfragen über den Zustand des wirtschaft- lichen Lebens in Deutschland an mich zu richten in der Absicht, objektives Zeugnis über Verhältnisse zu gewinnen, die der englischen Oeffentlichkeit im Interesse einer Gesundung der politischen Verhältnisse und Beziehungen bekannt sein müssten.[1] Ich danke Ihnen für das durch diese Anfrage mir gegenüber bewiesene Vertrauen und bemühe mich, meine Aussage auf das zu beschränken, was ich mit voller Ueberzeugung und Sicherheit vertreten kann. Ich gehe gleich zur Beantwor- tung der einzelnen Fragen über. (1) Die in Sachwerten ausgedrückten Einkünfte der Gelehrten und Lehrer sind in Folge der durch Krieg und Friedensvertrag geschaffenen Situation unaufhörlich zurückgegangen, sie betragen gegenwärtig unter allen Umständen und häufig sehr erheblich unter 20% des früheren Wertes.[2] Für die nicht fest angestellten geistigen Arbeiter ist diese Zahl noch viel zu hoch gegriffen.[3] Unterernährung ist bei gei- stigen Arbeitern und Studenten fast allgemein vorhanden, dazu eine Verteuerung der Bücher, welche das geistige Leben und die Entwicklung der neuen Generation stark beeinträchtigt. Die künstlerischen und wissenschaftlichen Unternehmungen, insbesondere Theater und Zeitschriften sind in ihrem Bestande in wachsendem Masse bedroht, beziehungsweise zum Teil vernichtet.[4] Der Kampf um’s Dasein unter den selbständigen Malern, Musikern und Schriftstellern ist ein wahrhaft verzweifelter.[5] Diese Verhältnisse, sowie insbesondere das Bewusstsein der stän- digen Bedrohung der materiellen Existenz des Einzelnen bringen es natürlich mit sich, dass die Wertschätzung, welche die Allgemeinheit den geistigen Berufen und Leistungen zu Teil werden lässt, deutlich im Sinken begriffen ist. Ich bin überzeugt, dass die jetzigen materiellen Verhältnisse, falls sie fortdauern oder sich gar noch verschlimmern, eine vollkommene Proletarisirung derjenigen breiten Schichten des sogenannten Mittelstandes mit sich bringen werden, welche bisher die Haupt- träger und Erhalter des geistigen Besitzes gewesen sind. (2) Es ist klar, dass in Zeiten der Not diejenigen Arbeiten relativ am höchsten bezahlt werden, die für die momentane Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens unentbehrlich sind, dass aber alle diejenigen Arbeiten, die nur für den Fortbestand und die Weiterentwicklung des Wirtschaftslebens und noch mehr die auf rein kul- turelle Ziele gerichteten unter den obwaltenden Verhältnissen schwer leiden müs- sen. Unter die letzteren Kategorien fällt fast die gesamte geistige Arbeit. Es ist mir bei einer Gelegenheit gesprächsweise von einem Kollegen versichert worden, dass die Frequenz wissenschaftlicher Zusammenkünfte erheblich herabgesetzt wird durch den Umstand, dass die Beteiligten die Ausgabe des Geldes für die Strassen-
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