870 DOCUMENT 612
SEPTEMBER 1918
612.
To
Michele Besso
[Berlin,]
Sonntag.
8.
IX.
[1918][1]
Lieber
Michele!
Dass ich Dir noch nicht habe mitteilen
können,
wann
ich in die Schweiz
komme,
hängt
mit
folgender
Angelegenheit
zusammen.
Vor drei Wochen erhielt ich einen
Ruf
an
Universität und
Polytechnikum
Zürich
(Brief
von
Edgar
Mayer)
offenbar
auf
eifriges
Betreiben
Zanggers
hin.[2]
Ich
muss sagen,
dass ich unter dieser Sache
schwer
gelitten
habe,
und dass
es
mir sehr schwer
wurde,
einen Entschluss
zu
fas-
sen.
Dass
die
allgemeinen
Verhältnisse
dort mir mehr
Sympathie
einflössen,
brau-
che
ich nicht erst
zu
sagen.
Wenn
Du aber sehen
würdest,
wie schöne
Beziehungen
sich
zwischen meinen
nächsten
Kollegen
und
mir
(besonders Planck)
herausgebil-
det haben und wie mir hier alle
entgegengekommen
sind und stets
entgegenkom-
men,
wenn
Du Dir ferner
vergegenwärtigst,
dass meine Arbeiten
erst
durch das
Verständnis,
das sie
hier
gefunden
haben,
zur
Wirkung gelangt sind,
dann wirst Du
doch
begreifen,
dass ich mich
nicht
entschliessen
kann,
dieser Stätte den Rücken
zu
kehren. Dazu kommt
noch,
dass meiner
grosse persönliche
Schwierigkeiten
har-
ren
würden,
wenn
ich mein Zelt
wieder
in Zürich
aufschlüge,
wenn
es
auch sehr
verlockend
erscheint,
wieder in
der
Nähe meiner
Kinder
sein
zu
können;
die bishe-
rigen
Erfahrungen
bei meinen
Besuchen
in
der Schweiz flössen mir da
wenig
Mut
ein.
Hier
kommen mir alle
nur
bis
zu
einem
gewissen
Abstand
nahe,
sodass das Le-
ben
nahezu
reibungslos
dahinläuft;
das habe ich im Leben
gelernt.
Weil ich
nun
aber andererseits sehr
an
Zürich
hänge,
und mir das
Neinsagen
un-
sagbar
sauer
wurde,
that ich
etwas,
das ich
sonst
sehr
verabscheue: ich
griff
zum
Kompromiss!
Ich
schlug vor,
man möge
mir
gestatten,
in Zürich zwei
Vortragszy-
klen
pro
Jahr
zu
halten,
deren
jeder
12
Vorträge (in
4-6
Wochen)
umfassen
sollte.[3]
Dies soll nicht als eine
Anstellung aufgefasst
werden,
sondern als eine ausserbe-
rufliche
Bethätigung,
für die ich
nur
soviel erhalten
soll,
dass meine daraus
ent-
springenden Auslagen gedeckt
sind.-
Nun siehst
Du,
warum
ich Dir nicht
schreiben
kann,
wann
ich nach Zürich kom-
me.
In
der
Voraussetzung,
dass mein
Vorschlag Billigung
findet,
will ich
erst
dann
nach Zürich
reisen,
wenn
die
nötigen Verabredungen getroffen sind,
sodass ich mit
der Reise einen
Vortragszyklus
verbinden
kann.-
Glaubst
Du,
dass ich
es
recht
ge-
macht habe?
Deine
Bemerkungen
über die Rolle der
Erfahrung
und der
Spekulation
in der
Physik
haben
mir sehr
gefallen.[4]
Ich möchte
nur
noch
beitragen,
dass
es
nicht
an-
geht,
Riemanns
Leistung
als reine
Spekulation
zu
buchen. Gauss’
Leistung
ist die
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