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Was die Stimmung betrifft, die ich bei den Fachgenossen in Frankreich und Bel-
gien gefunden habe, so besteht allgemein, wie das auch natürlich ist, in grösserem
oder kleinerem Maasse, ein Gefühl der Erbitterung gegen Deutschland; wenn das
zum Ausdruck kommt, tritt immer wieder das unglückselige Manifest der 93 in den
Vordergrund.[5]
Indess weiss man zu unterscheiden; man weiss, dass es in Deutsch-
land Leute wie Sie giebt, denen man nichts vorzuwerfen hat, und wenn ich Gele-
genheit fand, etwas zu sagen über das Gute, das in den letzten Jahren von Deut-
schen getan worden ist, und z. B. in Erinnerung brachte, wie ich namentlich Planck
immer bereit gefunden habe, für Belgier, die von der Unterdrückung zu leiden hat-
ten, einzutreten, so hörte man mich ohne Widerrede
an.[6]
In Brüssel sah ich Herrn
Solvay,[7]
dem es ziemlich gut geht, obgleich man ihm
die schweren von ihm durchlebten Jahre wohl ansehen kann. Mit der Commission
administrative habe ich das wieder in Wirkungtreten des Institut international de
physique besprochen. Nachdem das alte Comité scientifique ein Gesuch um Ent-
lassung eingereicht hatte, ist ein neues Comité gebildet worden, in welches freilich
alle früheren Mitglieder aufgenommen worden sind, mit Ausnahme von Warburg,
Nernst und Goldschmidt, an deren Stelle W. H. Bragg, Righi und van Aubel treten
werden.[8]
Die Erse[tzu]ng von Goldschmidt durch van Aubel findet ihren Grund
darin, dass wir uns strenger als vorher auf die Physik beschränken wollen.
Das Institut wird also seine Arbeit wieder aufnehmen. Es ist klar, dass man vor-
läufig keine Deutschen einladen wird (sie können schwerlich nach Brüssel kom-
men), aber von einer formellen Ausschliessung ist keine Rede; die Tür wird für sie
offen gehalten, sodass es in Zukunft wieder zu einer allgemeinen Zusammenwir-
kung kommen kann. Leider wird das noch viele Jahre dauern
müssen.[9]
Ich hoffe sehr, dass es Deutschland gelingen möge Ruhe und Gelegenheit zur
ungestörten Arbeit zu finden; dann wird es sich, Dank sei den vielen Kräften des
Volkes, von dem tiefen Fall erholen können und wieder die Rolle aufnehmen kön-
nen, die ihm in der friedlichen Entwicklung der Welt zukommt. Möge es Ihnen per-
sönlich gut gehen. Ich hoffe, dass Sie Ihre Kinder in guter Gesundheit gefunden ha-
ben. Mit herzlichen Grüssen treulich Ihr
H. A. Lorentz.
Da ich nicht weiss, ob Sie noch in der Schweiz
sind,[10]
so schreibe ich diesen Brief
doppelt und schicke ihn auch nach Berlin.
ALS (NeLR, Arch. 55). [16 471]. Einstein has written “Einordnen” at the head of the document.
There are perforations for a loose-leaf binder at its left margin.
[1]At the place-name in the dateline, Lorentz indicates a note that he has inserted above the saluta-
tion: “Wir bleiben bis Ende August hier, wie auch de Haas und seine Familie.”
[2]Doc. 36.
[3]In early May, Lorentz expressed his willingness to help in collecting documentary material for
a private German war-crimes commission of which Einstein was a member. In addition, Lorentz plan-
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