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hier zu verarbeiten, dass es einstweilen noch nicht angezeigt erscheint, zur Einsicht
der uns freundlich zur Verfügung gestellten Akten nach Holland zu
fahren.[4]
Ich habe allerdings grosse Sehnsucht, nach fast dreijähriger Pause zu Ehrenfest
zu fahren, zumal ein Brief, den ich neulich von ihm erhielt, besonderen Anlass da-
für
bietet.[5]
Aber das Reisen bis zur Grenze soll so beschwerlich sein, dass mir der
Arzt mit Rücksicht auf meinen immer labilen Gesundheitszustand dringend ab-
rät.[6]
So fehlt mir trotz starker Sehnsucht, Sie alle wiederzusehen, ein wenig der
Mut zum Reisen. Jedenfalls muss ich mich vorher genau über die Möglichkeiten
informieren.
Was nun die Beurteilung der hiesigen Gelehrten durch die ausländischen Kolle-
gen anlangt, so scheint sie mir trotz der grässlichen Dinge die geschehen sind, doch
zu hart zu
sein.[7]
Die meisten haben infolge der mehrjährigen gewaltsamen Beein-
flussung der öffentlichen Meinung noch durchaus kein klares Urteil über das Ge-
schehene. Man macht sich von aussen keinen Begriff davon, wie schwer es ist, sich
der Massen-Suggestion zu entziehen. Auch sind die nackten Thatsachen hier nicht
richtig oder gar nicht bekannt geworden. Deshalb ist die Aufklärung hier so bitter
nötig.[8]
Schon a priori ist es unglaublich, dass die Bewohner eines ganzen grossen Lan-
des moralisch minderwertig seien! Die Erklärung der 93, so thöricht sie war, wurde
nicht im Bewusstsein des Unrechts verfasst und
unterschrieben.[9]
Menschen, de-
ren Leidenschaften durch geschickte Ausnutzung aller Mittel bis zur höchsten Er-
bitterung aufgepeitscht sind, sind keiner objektiven Prüfung des Thatbestandes fä-
hig. Wenn wir nun auch nachträglich die Erkenntnis zum Leben erwecken können,
dass schwerstes Unrecht geschehen ist—was sollen diese Menschen nun thun, um
sich zu reinigen? Nachdem sie nun in die grösste Ohnmacht gesunken sind, muss
jede Erklärung das Misstrauen erwecken, von charakterlosem Opportunismus dik-
tiert zu sein. Davor fürchten sich gerade die Anständigen, die bisher im Glauben
waren, das Recht auf ihrer Seite zu haben. Das sollen wenigstens die Leiden-
schaftslosen bedenken. Übrigens schadet es nichts, wenn diesen Menschen durch
Boykott von Seiten der Ausländer ihre Abhängigkeit fühlbar gemacht wird. Da-
durch wird der letzte Rest des Grössenwahnes und des Machthungers beseitigt, den
früher die wirtschaftliche Hochkonjunktur mit sich gebracht
hatte.[10]
Nach meiner Überzeugung sind es eben die Verhältnisse, die „Preussen“ wach-
sen lassen; und meine Angst ist, solche möchten nun unter den ganz veränderten
Verhältnissen anderwärts nachwachsen. Hoffentlich ist diese Furcht nicht berech-
tigt!
Es grüsst Sie herzlich Ihr
A. Einstein
Hoffentlich kann ich Ihnen bald unsere erste Publikation senden.
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