DOCUMENT 70 AUGUST 1900 251 Ich kann mich nicht genug über dies große Werk immer von neuem wundern. Meine Nerven haben sich schon so beruhigt, daß ich wieder mit Wonne studiere. Was machen denn Deine? Grüße an die lieben Deinen! Sei herzinnigst geküßt von Deinem Albert. 70. To Mileva Maric [Melchtal,] Montag. [6 August 1900][1] Meine liebe Kloane! Gestern kam Dein erstes liebes Briefchen aus der Heimat. Ich las zuerst die Zeilen im stillen Kämmerlein, dann noch zweimal & dann las ich noch lange mit hoher Freude zwischen den Zeilen & dann schob ich es schmunz- lächelnd in die Tasche. Die "Schwiegermama ist sehr gemütlich & berührt das "heikle Thema" nicht, zumal ihr meine frohe heitre Laune, meine Beliebtheit unter den Kurgästen & meine "musikalischen Erfolge" Balsam auf das verletzte Schwiegermutterherz streuen, so daß es nachgerade recht gemütlich ist. Über unserer Korrespondenz, Schätzchen, scheint aber ein Unstern zu walten, daß Du meinen Brief noch nicht hattest, als Du Deinen wegschicktest. Dies ist der 3., den ich Dir sende.[2] Von Zürich habe ich noch keinen Bericht bekommen. Ich werde wohl selbst nach meiner Angelegenheit mich umsehen müssen. Bei Ehrats Gewissen- haftigkeit kann ich mirs nicht anders denken, als daß seine Angelegenheit noch in der Schwebe ist.[3] Ruhe Dich nur tüchtig aus, Herzchen, Du kannst ja mit Deinem Johonnesl noch genug des herrlichen Gestrebes vollbringen. Jetzt aber ruhe Dich aus und freue Dich des sorglosen Lebens. Papa hat mir auch einen Moralitätsbrief für einstweilen geschrieben, mir aber versprochen, daß die Hauptsache mündlich nachfolge, worauf ich mich pflichtschuldigst sehr freue. Ich begreife meine Alten recht gut. Sie betrachten die Frau als einen Luxus des Mannes, den sich dieser erst gönnen kann, wenn er eine behagliche Existenz hat. Ich aber achte eine solche Art der Auffassung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau sehr gering, da sich nach ihm Frau und Dirne lediglich dadurch unterscheiden, daß erstere sich vermöge ihrer günstigeren Lebensumstände vom Manne einen Vertrag fürs Leben zu erzwingen vermag. Eine solche Ansicht ist die naturgemäße Folge davon, daß