252 DOCUMENT 71 AUGUST 1900 bei meinen Eltern wie bei den meisten Menschen die Sinne die unmittelbare Herrschaft über die Gefühle ausüben, während bei uns dank der glücklichen Umstände, in denen wir leben, der Lebensgenuß unendlich erweitert ist. Doch dürfen wir nicht vergessen, wie viele Existenzen der ersten Art nötig sind, um uns dazu die Möglichkeit zu bieten denn in der sozialen Entwicklung der Menschheit sind doch jene der weitaus wichtigere Bestandteil. Hunger und Liebe sind und bleiben so wichtige Triebfedern des Lebens, daß man fast alles bei Vernachlässigung der andern Leitmotive daraus erklären kann. Ich suche daher meine Eltern zu schonen, ohne in irgend etwas von dem abzugehen, was ich für gut halte-und das bist Du, mein lieber Schatz! Wenn Du den Deinen noch nichts gesagt hast, so thue es nicht! Ich glaube, daß es für alle Teile besser ist. Sie machen sich sonst vielleicht dieselben un- nötigen Sorgen und Skrupel wie die meinen. Doch Du bist ja klug und kennst sie und weißt selbst besser, was Du thun mußt. Wenn ich Dich nicht habe, so ist mir gerade zu Mute, wie wenn ich selbst nicht ganz wäre. Wenn ich sitze, so möchte ich gehen wenn ich gehe, freue ich mich heim, wenn ich mich unterhalte, möchte ich studieren, wenn ich studiere, fehlt es mir an Beschaulichkeit und Ruhe & wenn ich schlafen gehe, bin ich nicht befriedigt über den verlebten Tag. Sei vergnügt, Herzchen und sei innig geküßt von Deinem Albert. ALS (CLE). [1] Dated on the assumption that Maric's first letter to Melchtal was written shortly after she arrived home. [2] See the two preceding letters. [3] Jakob Ehrat was under consideration for positions as an Assistent at the ETH and as a secondary-school teacher (see the pre- ceding letter, note 7). 71. To Mileva Maric Zürich Donnerstag [9? August 1900][1] Mein lieber Schatz! Gelt da schaust, daß ich schon wieder hier auftauche! Doch ich benützte die erste beste Ausrede, um aus dem langweiligen Milieu herauszukommen, obwohl meine Mutter über die "Affäre" das tiefste Schweigen sich zu Pflicht machte. Sie that ganz wie wenn nichts vorgefallen wäre, gab mir Deine Brief- chen selbst in die Hand, merkte nichts, wenn ich an Dich schrieb, kurz-sie hat die offene Feldschlacht aufgegeben & wird wohl erst in Gemeinschaft