254 DOCUMENT 72 AUGUST 1900 72. To Mileva Maric Zürich Dienstag. [14? August 1900][1] Liebes Schatzerl! Schon wieder sind ein paar träge öde Tage an meinem schläfrigen Auge vorübergelaufen, weißt Du, solche Tage, an denen man spät aufsteht, weil man nichts Rechtes zu thun weiß, dann fortgeht, bis das Zimmer gemacht ist, dann studiert, so einige Stunden bis man zu müde ist. Dann drückt man sich so herum und freut sich so halb aufs Essen, wobei man noch über hochwichtige philosophische Fragen schlaffen Geistes nachsinnt & ein bischen dazu pfeift ...... Wie hab ich nur früher allein leben können, Du mein kleines Alles. Ohne Dich fehlt mirs an Selbstgefühl, Arbeitslust, Lebensfreude-kurz ohne Dich ist mein Leben kein Leben. Sogar Besuche hab ich gemacht, um mich zu zerstreuen. So war ich bei Frau Markwalder,[2] welche immer noch von der gleichen apatisch-schlaffen Liebenswürdigkeit ist & alles in einem undefinierbaren Dusel sieht ein Glück, daß ich nimmer bei ihr bin. Auch beim Jungferli war ich, das immer noch eine der nettesten & frischesten Personen ist, die wir hier kennen. Sie geht jetzt fort für immer sie siedelt um nach einem kleinen Städtchen im Thurgau. Bei Deiner Hausfrau war ich auch.[3] Dein Koffer sei längst fort. Sie fragte, ob Du vielleicht das Zimmer behalten wollest, sie würde es dann extra mieten. Ich schlug es aber ab (der Tyrann! wirst Dir denken). Länger als bis zu den ersten Tagen des Oktober gebe ich Dir aber nicht Urlaub, das ist grade lange genug. Samstag reise ich nach Italien um bei meinem Vater des Genusses des "heiligen Sakraments" teilhaftig zu werden [4] doch der wackre Schwabe forcht sich nit.[5] Hoffentlich verschimmle ich nicht auch so, wenn ich alt werde, dann ist es schon recht. Daß man auch anders sein kann, das beweisen mir Deine Alten-müssen prächtige Leute sein. Sag nur nicht zu viel von mir, sonst kriegen sie auch noch Angst. Wenn ich schlauer gewesen wäre, hätt ich brav mein Maul gehalten. Warum hab ich meine Losung omnes tractandi sunt nicht besser beherzigt? Nun, dafür wirds umso schöner, wenn wir uns wieder in Zürich haben und beim duftenden Gofeerl[6] unsere Weisheit vermehren! Daß Dich Dein Mütterchen gut füttert & Dein Schwesterchen schön neckt, das ist recht, & daß Du Sehnsucht nach mir hast, das macht mich stolz! Studiere nur nicht viel, wenn Deine Bücher kommen, sondern ruhe Dich aus, daß Du mir wieder der alte Gassenbub wirst. Nur eines will & verlang ich von Dir, daß es Dir wohl sein soll. Wenn das aber nicht der Fall ist, dann prügle ich Dich.