296 DOCUMENT 104 MAY 1901 104. To Alfred Stern Milano, 3. Mai 1901. Sehr geehrter Herr Professor, Wenn Sie vielleicht zufaellig einmal meiner gedacht haben, werden Sie mich gewiss fuer recht undankbar gehalten haben, weil ich von Zuerich weg bin, ohne mich auch nur bei Ihnen zu verabschieden. Trotzdem mir dieser peinliche Gedanke oefters in den Sinn kam, brachte ich mich doch nie zum Schreiben, weil ich immer darauf warten wollte, bis ich Ihnen irgend etwas Angenehmes von mir zu sagen wuesste- und das hat eben gerade bis heute gedauert. Ich bekam naemlich die Aufforderung, am Technikum Winterthur vom 15. Mai bis 15. Juli den mathematischen Unterricht zu uebernehmen, da der dortige Professor waehrend dieser Zeit Militaerdienst hat.[1] Ich bin ausser mir vor Freude darueber, denn heute erhielt ich die Nachricht, dass alles definitiv geordnet sei. Ich habe gar keine Ahnung, welcher Menschen- freund mich dorthin empfohlen hat,[2] denn soviel man mir sagte, bin ich bei keinem einzigen meiner frueheren Lehrer gut angeschrieben, und ich hatte mich nicht gemeldet, sondern erhielt eine Aufforderung. Auch ist Aussicht vorhanden, dass ich spaeter am schweizerischen Patentamt bestaendige Beschaeftigung finde.[3] Was soll ich aber jetzt sagen ueber alle Guete und vaeterliche Freund- schaftlichkeit, mit der Sie mich stets beglueckt haben, wenn es mir vergoennt war, bei Ihnen zu sein?[4] Ich weiss ja, dass Sie es wohl wissen und dass Sie es nicht hoeren wollen. Aber das ist gewiss, dass mir noch keiner so entgegenge- kommen ist wie Sie, und dass ich mehr als einmal in traurigen oder bitterer Stimmung zu Ihnen ging und dort stets Freudigkeit und inneres Gleichgewicht wiederfand.-Damit Sie mich aber jetzt nicht allzu sehr auslachen, muss ich doch gleich dazu setzen, dass ich ganz gut weiss, dass ich ein lustiger Fink bin und ohne einen verdorbenen Magen oder so was aehnliches gar kein Talent habe zu melancholischen Stimmungen. Hoffentlich geht es Ihrer Frau Gemahlin[5] wieder ganz gut, so gut, dass sie in den Osterferien wieder haben ausfliegen koennen, wie schon oft. Da aber Frl. Dora jedenfalls ihr Examen glaenzend bestanden hat, lasse ich ihr herzlich gratulieren.[6] Bei Frau Ansbacher[7] bin ich sehr oft gewesen waehrend meines Hierseins, am meisetn in der Zeit, in welcher ihre Schwester von Augsburg hier war mit ihrer Tochter, welche Musik studiert. Luigi studiert nun in Leipzig noch ein Semester, nachdem er schon letztes Jahr in Pavia seine Studien beendet