D O C U M E N T 1 1 2 A U G U S T 1 9 2 0 3 8 7
112. From Ernst Cassirer
Hamburg Blumenstrasse 26 28/8 20
Sehr verehrter Herr Kollege!
Ich erfahre soeben erst, aus Ihrem Aufsatz im „Berliner Tageblatt“, die Angriffe,
denen Sie und Ihre Theorie in letzter Zeit ausgesetzt gewesen
sind[1]
und möchte
nicht säumen, Sie wenigstens mit einem Wort meiner aufrichtigsten und herzlich-
sten Sympathie zu
versichern.[2]
Ich kann in Sachen der Relativitätstheorie kein
fachmännisches Urteil für mich in Anspruch nehmen: aber ich gehöre zu denen, die
den Ausbau dieser Theorie seit langem mit innerster geistiger Teilnahme gefolgt
sind, und ich weiss, wie viel der ruhigsten, beharrlichsten und sachlichsten For-
schungs- und Gedankenarbeit in ihr konzentriert und verkörpert ist. Daß auch diese
Arbeit, an der jeder sich erfreuen und aufrichten konnte, der überhaupt für geistige
Werte Sinn besitzt, nun in die Sphäre des persönlichen Streits und des politischen
Tageslärms herabgezogen wird, ist tief
beschämend.[3]
Aber ich bin andererseits
fest überzeugt, daß alle diese Dinge an Sie selbst in keiner Weise heranreichen und
Sie keinen Augenblick von Ihrer Bahn ablenken werden. So glaube ich auch dem
Gerücht nicht, das ebenfalls in der letzten Nummer des „Berliner Tagesblatt“ ver-
zeichnet ist: daß Sie auf Grund dieser letzten Erlebnisse den Beschluss gefasst hät-
ten, Deutschland zu
verlassen.[4]
Mit den Angriffen einiger politischer Hetzer und
einiger wissenschaftlicher Monomanen hat ja die deutsche Wissenschaft als Gan-
zes nichts zu tun: es hiesse diesen Angriffen zu einer ganz unverdienten Bedeutung
verhelfen, wenn Sie sich in irgend einer Weise durch sie beeinflussen liessen. Je
schlimmer die Verhältnisse bei uns werden, um so mehr bedürfen wir der Männer,
die uns wieder zur kritischen Besonnenheit und zur ruhigen sachlichen Arbeit er-
ziehen. Ich freue mich jetzt, daß meine kleine Arbeit über die Relativitätstheorie
nunmehr fertig gedruckt ist und demnächst erscheinen
wird;[5]
—so hoffe ich we-
nigstens an meinem Teil ein Geringes dazu beitragen zu können, der geistigen Ver-
wirrung zu steuern, die noch in so vielen Köpfen über diese Dinge besteht und die
von manchen Seiten geflissentlich ausgebeutet zu werden scheint.
Ich bin mit dem Ausdruck aufrichtiger Verehrung Ihr sehr ergebener
Ernst Cassirer
ALS. [8 390]. Written on printed personal letterhead.
[1]See Doc. 111 and Einstein 1920f (Vol. 7, Doc. 45).
[2]Six weeks earlier, Cassirer had invited Einstein to be his personal guest and stay at his house
during his visit to Hamburg to deliver a lecture on the foundations of the theory of relativity (see Ernst
Cassirer to Einstein, 15 July 1920, in Calendar).
[3]Einstein had suggested in Einstein 1920f (Vol. 7, Doc. 45) that the anti-relativity events in the