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sen zu
lassen.[3]
Wir fuhren also vom Bahnhof mit Anschütz’ Motorboot bis zu ei-
nem Landungssteg, der zur Anschütz’schen Willa gehört. Diese liegt unmittelbar
am Wasser auf einer kleinen Anhöhe inmitten eines herrlichen Gartens. Ich wurde
nun in das Dachgeschoss der Willa hinaufgeführt, wo ein reizendes kleines Appar-
tement für Logierbesuche, bestehend aus zwei kleinen, geschmacksvollst einge-
richteten Zimmern mit allen Bequemlichkeiten, die das Herz begehren kann und
mit herrlicher Aussicht über die Kieler Bucht. Das Frühstück wird auch gebracht,
sodass ich von einer unübertrefflichen Ruhe umgeben bin und gar nicht merke, dass
ich zu Besuch bin. Dazu kommt noch, dass Herr Anschütz und seine
Frau[4]
stille
und vergnügte Leute sind, die keine Ahnung davon haben, was zappeln und pres-
sieren heisst.
Gestern Abend war ich noch mit Frau Anschütz in der Missa Solemnis von
Beeth.[5]
Aufführung ziemlich ungenügend, Komposition grossartig, aber nicht im
Sinne meines
Ideals.[6]
Frau Anschütz ist noch sehr jung, hübsch, mehr Körper als
Geist: Sie hat sich über die Zumutung, mich bemuttern zu sollen, sehr
ergötzt,[7]
weil die elterliche Beziehung anders herum weit besser passen würde, wenn auch
eine so üppige Tochter mit rotblondem Haar bei mir immer mit einem verdächtigen
Fragezeichen behaftet bliebe. Heute gehe ich in einen Vortrag von Becker über
deutsche Bildungsfragen und dann—leider!—zu einem offiziellen
Festessen.[8]
(Nischt zu machen). Morgen Vormittag ist mein
Vortrag.[9]
Spengler kommt
nicht.[10]
Überhaupt scheint mir die Kieler Woche über den lokalen Rahmen nicht
hinauszuwachsen. Spiessiges Beamtenpublikum, blöd und
bieder.[11]
Zu meiner
Predigt ist kein Plätzchen mehr zu kriegen, aber ich glaube die Leutchen kommen
dabei noch weniger auf ihre Kosten als—ich selber.
Denkt an Haus und
Segelboot.[12]
Wir müssen uns auch eine menschlichere Exi-
stenz einrichten, wenn auch in aller ländlicher Einfachheit. Es ist was Schönes um
ein beschauliches Leben. Das wird mir jetzt so recht eindrücklich vor Augen ge-
führt. Berlin ist nerven-mordend und bringt mich auch um die Möglichkeit des stil-
len Denkens.
Sei mit Ilse und
Margot[13]
geküsst von Deinem
Albert.
Ich lasse auch die Grosseltern grüssen und Anna, auch den Minnesänger Mosz-
kowski mit
Gattin.[14]
Grüsse von Anschützens, die Deine Absage bedauern. Auf Wiedersehen Sams-
tag. Ich werde wohl Freitag abreisen müssen.
ALS. [143 104].
[1]Dated by the fact that Einstein left Berlin on 13 September (see Ilse Einstein to Vieweg publish-
ing house, 19 October 1920 [42 072]), and that the only Tuesday during the Kiel Autumn Week for
Arts and Sciences, which began on 12 September 1920, was 14 September.
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