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27. “Welcoming Address to Paul Colin”
[16 December 1919]
Begrüssung an Herrn Colin,[1] gesprochen im Bund Neues Vaterland
am 16. XII. 19
Im Namen des Bundes Neues Vaterland, der auch während des furchtbaren Krie-
ges das Ideal der Menschlichkeit und der Völkerversöhnung hoch gehalten hat,
begrüsse ich Sie bewegten Herzens als den ersten Franzosen, der im Dienste des
heiligen Zieles der Völkerversöhnung nach dem Kriege zu uns gekommen ist.
Unsere Pflicht ist ernst und die Stunde schwer. Schwer zu sagen ist es, ob bei
Ihnen der Sieg oder bei uns die Niederlage verhängnisvoller die nationalistische
Leidenschaft entfacht hat, die den Zustand der Blutrache zwischen den beiden be-
nachbarten Ländern zu verewigen droht. Aber die Wurzel des Unheils liegt nicht
im gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick, sondern in Traditionen, die sich in
den gebildeten Schichten der europäischen Staaten von Geschlecht zu Geschlecht
forterben, den äusserlich festgehaltenen Lehren der christlichen Moral zum Trotz:
Vergewaltigen und Unterdrücken bringt Ehre und Ruhm, Unrecht erdulden bringt
Schande und Schmach. Diesen alten, bösen Traditionen, die unseren Kontinent
vollends zu Grunde zu richten drohen, wollen wir das leidenschaftliche Bekenntnis
zu jenem menschlichen Solidaritätsgefühl entgegenstellen, ohne das ein erträgli-
ches Zusammenleben der Individuen und der Staaten nicht möglich
ist.[2]
Als man meinem grossen holländischen Kollegen die Lehre Treitschkes vom
Staate mit Geschick vorgetragen hatte, da sagte er etwa: “Möglich dass diese Welt
so ist, aber in einer solchen Welt mag ich nicht
leben.”[3]
Möge das mutige und selbstlose Unternehmen unseres heutigen Gastes dazu
beitragen, dass dieser Geist diesseits und jenseits des Rheins Wurzel
fasse![4]
TD with Einstein’s handwritten emendations. [28 005]. The document consists of one unnumbered
page.
[1]Paul Colin (1890–1943), editor of the periodical LÊArt libre, had been invited to address the
Bund “Neues Vaterland” (BNV) in his capacity as member of the board of directors of the Clarté
movement. He also served as its leading organizer in Belgium (see Brett 1963, p. 192). The Clarté
movement, initiated during the war, was dedicated to a just postwar political order and drew its
support both from later adherents of the Third International such as Henri Barbusse (1873–1935) and
from pacifists like Romain Rolland (1866–1944). Einstein, who was a member of the working com-
mittee (Arbeitsausschuß) of the BNV (see Mitteilungen des Bundes Neues Vaterland, Neue Folge Nr.
1, November 1918, p. 15), had been a wartime admirer of Rolland (see Einstein to Romain Rolland,
22 March 1915 [Vol. 8, Doc. 65]) and a half-year earlier had signed an appeal drawn up by him
entitled “The Declaration of Independence of the Mind” (“Für die Unabhängigkeit des Geistes!”;
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