D O C U M E N T 6 5 J U N E 1 9 1 9 9 7
65. From Gustav Mie[1]
Halle a. S. Magdeburgerstr. 47. d. 29. Juni. 1919.
Lieber Herr Kollege!
Wir sind hier auf der Suche nach einem Nachfolger für unsern Mathematiker
Wangerin, der zurücktreten will, und ich möchte gerne Weyl in Zürich auf die Liste
bringen, womöglich an erster Stelle, da ich von ihm den Eindruck habe, dass er ein
hervorragender Mann
ist.[2]
Um zu erfahren, ob mein Urteil auch begründet ist,
möchte ich Sie fragen, wie Sie von ihm denken. Sie sind doch in erster Linie kom-
petent und haben sicherlich gerade über die Arbeiten Weyls zur allgemeinen Rela-
tivitätstheorie ein besseres Urteil als ich. Außerdem kennen Sie Weyl sicherlich
persönlich und es käme mir auch darauf sehr an, zu hören, ob er wohl als Lehrer
und als Mensch anregend ist, und was sich sonst über seine Persönlichkeit sagen
lässt. Ich kenne ihn gar nicht persönlich, auch wissenschaftlich nur aus den Arbei-
ten, die mich gerade
interessieren[3]
und bin gerne bereit mein Urteil zu revidieren,
wenn Sie anderer Ansicht sind, ich habe im Anfang des Briefes vielleicht etwas zu
sehr geradezu meine Ansicht ausgesprochen.
Leider komme ich in letzter Zeit kaum zum wissenschaftlichen Arbeiten, da
mein Institut mir hier viele Sorgen und viele Arbeit macht. Ich habe vor einem hal-
ben Jahr etwa eine kleine Untersuchung abgeschlossen, die Sie vielleicht auch in-
teressieren wird. Ich habe das elektrische Feld einer geladenen, schweren Kugel,
die um ein Gravitationszentrum herumläuft,
berechnet.[4]
Da man nach Ihrer Theo-
rie dieses Feld durch eine Art Transformation aus dem Fall der ruhenden Kugel ab-
leiten kann,
so[5]
ist vorherzusehen, dass die Kugel bei dieser Bewegung nicht
strahlt. Und das hat sich auch ergeben. Ich dachte zuerst, dass dieses Ergebnis be-
sonders interessant w[ä]re. Aber leider hat sich bei genauerer Überlegung die Sa-
che sehr einfach aufgeklärt. Was man aus dem Fall der gewöhnlichen ruhenden Ku-
gel so herleitet, ist nämlich gar nicht die in einem an sich strahlungsfreien Raum
rotierende Kugel, sondern es ergibt sich der Fall, den man etwa haben würde, wenn
der Raum außen durch eine sehr große, vollkommen reflektierende, mit dem Gra-
vitationszentrum konzentrische Hohlkugel abgeschlossen wäre. Dann bilden sich
infolge der Reflektion der Wellen stehende Schwingungen aus und die umlaufende
Kugel gibt keine Strahlungsenergie mehr ab. Man sieht also, dass man mit dem all-
gemeinen Relativitätsprinzip doch recht vorsichtig sein
muss.[6]
Die im völlig frei-
en Raum rotierende geladene Kugel ergiebt sich nicht aus der ruhenden Kugel
durch 〈einfache〉
„Transformation“.[7]
Die Bewegung ist daher in diesem Fall auch
„absolut“ nachzuweisen, nämlich an der Strahlung und dem mit der Strahlung ver-
bundenen
Energieverlust.[8]
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