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103. To Paul Ehrenfest
[Berlin,] 12. IX. 19
Lieber Ehrenfest!
Dein Anerbieten ist so märchenhaft und Deine Worte sind so herzlich und
freundschaftlich, dass Du kaum begreifen wirst, was für ein Trubel durch Deinen
Brief in meinem Kopf hervorgerufen
wird.[1]
Du weisst ja, wie entzückt ich von
Leiden bin! Und Du weisst, wie gern ich Euch alle habe. Aber so einfach liegen bei
mir die Dinge nicht, dass ich nur diesem Zug meines Herzens zu folgen brauche,
um recht zu thun. Ich sende Dir einen Brief, den mir Planck nach Zürich geschrie-
ben
hat.[2]
Ich habe ihm darauf hin versprochen, Berlin nicht den Rücken zu keh-
ren, bevor nicht Verhältnisse einträten, die ihm einen solchen Schritt als natürlich
und richtig erscheinen
liessen.[3]
Du hast kaum eine Vorstellung davon, was für Op-
fer hier bei der schwierigen allgemeinen Finanzlage gebracht werden, um mir das
Bleiben und die Erhaltung meiner in Zürich lebenden Familie zu
ermöglichen![4]
Es wäre doppelt hässlich von mir, wenn ich gerade in diesem Augenblick der Er-
füllung meiner politischen Hoffnungen, vielleicht zum Teil um äusserer Vorteile
willen, Menschen ohne Not den Rücken kehrte, die mich mit Liebe und Freund-
schaft umgeben haben, und denen mein Scheiden in dieser Zeit vermeintlicher Er-
niedrigung doppelt schmerzlich wäre. Du hast keine Vorstellung davon, mit wie
viel Herzlichkeit ich hier umgeben bin; da sind nicht nur solche, die die Schmalz-
tröpfchen auffangen, die ich aus dem Gehirn
schwitze.[5]
Du siehst also, wie es bei mir steht. Ich kann von hier nur dann weggehen, wenn
eine Wendung eintritt, die mein ferneres Bleiben unmöglich macht. Eine solche
Wendung könnte eintreten. Tritt sie nicht ein, so wäre mein Weggehen mit einem
schnöden Wortbruch Planck gegenüber gleichbedeutend, und auch sonst treulos.
Ich müsste mir später selbst Vorwürfe machen.— (Ich komme mir vor wie eine Re-
liquie in einer alten Stiftskirche; man kann zwar mit den alten Knochen nichts an-
fangen, aber . . .)
Nun aber, wie es auch kommen möge, ist dies eine schöne Ausrede, um zu Dir
zu fahren, zumal wir uns ganz schrecklich lang nicht gesehen haben. Wenn es mein
tyrannischer Bauch gestattet, werde ich Dich noch diesen Herbst besuchen. Ob
man wohl ohne Weiteres die Reise-Erlaubnis bekommt? Habt Ihr dort vielleicht et-
was von den englischen Sonnenfinsternis-Expeditionen
vernommen?[6]
Das Fach-
simpeln sei übrigens aufs Mündliche aufgespart. Es ist bei mir nicht gar viel.
Für heute sei mit den Deinen herzlich gegrüsst von Deinem
Einstein.
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