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haben, darauf aufmerksam machen, dass hier oben im Norden ein Philosophiedo-
zent mit leidlich gesundem Menschenverstand sitzt, der nichts lieber tun würde, als
seine Tätigkeit um ein paar Breitengrade südlicher zu verlegen? Oder glauben Sie,
dass die Abneigung gegen einen Deutschen ein zu großes Hindernis bilden würde,
auch wenn seine politische Gesinnung so neutral ist wie die meinige? Sie wissen,
was die Erlangung einer Professur für mich und auch besonders für meine Familie
bedeuten würde—und noch dazu in einem Lande voller jetzt unerreichbarer Schön-
heiten, bei deren bloßer Nennung uns manchmal die Sehnsuchtstränen in die Au-
gen
kommen.[4]
Der Gedanke, von Ihnen empfohlen zu werden, würde mich in je-
dem Falle ganz besonders glücklich machen; meine Dankbarkeit gegen Sie könnte
freilich, glaube ich, nicht größer werden als sie schon ist. Medicus selber kenne ich
nicht, und von den Züricher Herren nur Edgar Meyer. An ihn will ich in den näch-
sten Tagen auch schreiben, um ihm einen Wink zu geben; meine Frau wenigstens
meint, ich dürfte das auf keinen Fall unterlassen. Das geistige Leben Zürichs könn-
te einem in der Rostocker Schläfrigkeit wohl verlockend erscheinen. An der Züri-
cher Universi[tä]t gibt es sogar einen Philosophen, Freytag, der nach seinen Schrif-
ten zu urteilen, ein sehr verständiger und scharfsinniger Mann sein
muss.[5]
In der Zeitung lasen wir letzthin mehrfach über Ihre Kämpfe an der Berliner
Universität. Die Studentenschaft scheint dort auch nicht reifer zu sein als bei uns—
freilich nur ein schlechter Trost für
uns![6]
Das Befinden meiner Familie ist dank der Milde des Februar recht gut. Die bei-
den Kinder lieben Onkel Einstein sehr und sprechen oft von
ihm.[7]
Ich bin wäh-
rend der letzten Zeit fast unaufhörlich von Rostock abwesend gewesen, denn ich
lese in dem jetzt laufenden Zwischensemester [nic]ht und halte statt dessen in vie-
len Orten Mecklenburgs Volkshochschulkurse
ab.[8]
Die Hörer scheinen sehr dank-
bar zu sein, und so wäre diese Tätigkeit auch ganz befriedigend, wenn sie nur nicht
so viel Zeit frässe. Ich brenne vor Ungeduld, ein Reihe von Arbeiten fertig zu ma-
chen, die ich vorhabe, aber in den Wartesälen der Stationen und den Gaststuben
ländlicher Wirtshäuser mache ich nur sehr, sehr langsame Fortschritte.
Meine Familie sendet Ihnen schönste Grüße, und auch ich begrüße Sie, mit der
Bitte um beste Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin und den herzlichsten Wün-
schen für Ihre Gesundheit und Ihr Schaffen als Ihr Ihnen in Dankbarkeit und Ver-
ehrung ergebener
M. Schlick
ALS. [21 571]. There are perforations for a loose-leaf binder at the left margin of the document.
[1]Einstein was in Rostock 25–28 November 1919 (see Doc. 184).
[2]Fritz G. A. Medicus (1876–1956) was Professor of Philosophy and Pedagogy at the Swiss Fed-
eral Institute of Technology.
[3]Possibly David Katz (1884–1953), Professor of Psychology and Pedagogy at the University of
Rostock.
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