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Ich bin, Herr Professor, ein tief ratloses Menschenkind. Ich faße Sie an den Hän-
den und ich frage Sie: haben Sie sich eine Überzeugung gebildet? Gibt es eine
Seele und damit verbunden ein persönlich, d.h. individuell seeliches Fortentwik-
keln nach diesem Leben? Glauben Sie, daß es „der Geist ist, der sich den Körper
baut“ und daß das Höchste und Entscheidendste, diese Höherentwicklung, die Er-
lösung der Seele ist? Bejahen Sie die Theorie (die heutzutage schon viel mehr zu
sein scheint als Theorie – –) des Odkörpers oder Fluidalkörpers, der den physi-
schen Leib durchdringt u. umhüllt und der Sitz feinerer geistiger Kräfte ist, die sich
im Trance-Zustand extrahieren
können?[3]
Das Gefühl bejaht elementar diese
Fragen aber darf sich der Wahrheitsdürftige dadurch allein verführen laßen? Sie,
hochverehrter Herr Professor, sind um vieles tiefer als wir anderen alle in die Irr-
tümer des Denkens eingedrungen, haben die seltsamen Fallen bloßgelegt, die
Gefühl und sogenannter gesunder Menschenverstand uns legen. Zu welchen not-
wendigen Schlüßen hat Sie Ihr Denken geführt?
Ist es Ihrer Ansicht nach denkbar, daß „alles Physik ist“, wie das mephystophe-
lische Glaubensbekenntniß der Materialisten lautet? Ich glaube, daß wohl das
äußere Geschehen nach physikalischen Gesetzen, von denen noch viele uns unbe-
kannt sind, verläuft, aber hinter jeder Physik steht, glaube ich—eine Metaphysik!
Ach, dieses „glaube ich“—das doch noch immer schwankend ist!
Zu welchem verzweifelten Weltempfinden ich in Stunden bedrückender Angst
gelange, können Sie, hochverehrter Herr Professor, aus dem Gedicht „Das Tau der
Schattenbürger“ ersehen, falls Sie die große Güte haben wollten, es durchzule-
sen.[4]
Und da die Kunst die einzige Möglichkeit bedeutet „den Inhalt einer Seele
in eine andere zu übertragen, ohne daß ein Tropfen verschüttet wird“ und dies für
mich gerade Ihnen gegenüber etwas tief verlockendes hat, bin ich so kühn, noch ei-
nige Gedichte von mir beizufügen, die Ihnen vielleicht Nachricht von den Ringen
einer fernen Seele bringen wollen.
In vertrauensvoller Ergebenheit Ihre Sie hochverehrende
Lili Halpern-Neuda
ALS. [43 837].
[1]Lili Neuda (1882–1940?), married to Abraham Halpern, was a poet born in Vienna.
[2]This letter is dated on the assumption that Doc. 41 is a reply to it.
[3]In 1844, Karl Freiherr von Reichenbach, a wealthy coal and oil entrepreneur, posited the exist-
ence of a peculiar new form of energy, emitted by all humans, which he called Od, and which could
only be observed by particularly sensitive individuals (Meyers Konversationslexikon 1892, p. 321).
The Austrian physician Franz Anton Mesmer introduced the notion of animal magnetism, a “flui-
dum,” to describe a fluid that is subject to magnetic fields and permeates nature. The concept, in var-