7 1 0 D O C U M E N T 4 5 7 M A R C H 1 9 2 5 Seit gestern ist es wärmer und nun haben wir schönes Wetter. Gestern legten wir im Aussenhafen von Boulogne an, wo ich einen Brief an Prof. Lewin[3] spedierte an Euch hatte ich noch keinen aufzugeben. Ich denke oft, wie hübsch es für Margot wäre aber es hat nicht sollen sein.[4] Ich sitze neben einem deutschen Prof. der Phi- losophie, der in Buenos Aires an der Universität lehrt.[5] Sonst gedenke ich keine Bekanntschaft zu machen, und auch diesen, der ein sehr feiner Mann ist, sehe ich nur bei den Mahlzeiten. Das Büchlein, das mir Rudi[6] mitgegeben hat, gefällt mir ausserordentlich. Daneben beschäftige ich mich gemächlich mit Wissenschaft. Es zeigt sich nämlich, dass ich es anders nicht aushalte, trotz Lewin. Wenn ich es zu lassen versuche, wird mir das Leben zu leer. Keine Lektüre kann es ersetzen, nicht einmal die wissenschaftliche. Nun bin ich schon viel im Freien, denn die Luft an der französischen Küste bezw. im Golf von Biskaya ist schon viel milder als bei uns. Schickt mir sicher so- fort aus meinem grauen Mantel untere Seitentasche das Exposé über Argentinien nach, das mir ein Argentiner (Gabiola) in Berlin übergeben hat.[7] Ich werde es in Boenos brauchen. Das Schiff ist sehr gross und wackelt wenig. Aber merkwürdigerweise fühle ich es stärker als bei den früheren Reisen. Den Brief von Mühsam mit dem Geld lasse ich zu bis zu meiner Rückkehr, wenn ich nichts von dem Geld brauche so muss er doch meiner Bitte willfahren, mir meinen Frieden zu lassen.[8] Sein Verhalten mir gegenüber beweist, dass er mich sehr schlecht kennt. Die Nahrung auf dem Schiff ist sehr hygienisch, und ich bin äusserst vorsichtig, weil ich mir der Bedenklichkeit meiner Mission sehr wohl bewusst bin. So schön die Seereise ist, so halte ich es doch für eine Narretei, dass ich mich in dies Unter- nehmen eingelassen habe bei meinem Geschmack. Denn dort habe ich die Wahl zwischen viel Belästigung und Erregung von Aerger und Enttäuschung. Das spani- sche Büchlein frequentiere ich wenig der Magen rebelliert gegen den Quatsch in vierter Auflage, den ich schon in drei Auflagen kenne. Zu Ehren des armen Margotl hab ich soeben Ananas gefressen. Schad, dass sie es nicht selber besorgen konnte. Hoffentlich gehts ihr wieder gut Herzliche Grüsse an Euch beide, die Grosseltern und Rudilse[9] von Euerm Albert ALS. [143 180]. Written on letterhead “Hamburg-Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft ‘Cap Polonio.’” [1]Marie Robinow-Rosenfeld. [2]Alexander Bärwald. [3]Possibly Louis Lewin (1850–1929), Professor of Pharmacology at the Technische Hochschule in Berlin.
Previous Page Next Page