5 7 2 D O C U M E N T 3 5 9 A U G U S T 1 9 2 6 über jede abgeblaßte Ironie, die ich auftischte. Bei den rührenden Stellen starrten sie todernst ins Weite. Ich betrachtete während des Vortrags mit besonderem Inter- esse den Lehrer. Als ich sagte: „Es ist sehr, sehr angenehm, über ein Thema zu sprechen, das den Zuhörern nicht so geläufig ist. Es besteht dann nicht die Gefahr, daß jede Kleinigkeit nachkontrolliert wird.“ warf er mir einen Blick zu wie einem Hund, der einem ein Stück Brot aus der Hand geschnappt hat. Als ich sprach: „,Dantons Tod‘[4] eignet sich kaum zur Schullektüre. Zum mindesten müßte man etwa drei Vierteile des Dramas ausmerzen. Es könnte ansonst jemand sittlich ver- dorben werden, und das wäre jammers[ch]ade.“ runzelte er die Stirn und wandte sich ab. Als ich zu „Leonce und Lena“[5] bemerkte: „Es gibt in der Tat Individuen, die an diesem Stücke einiges auszusetzen haben, ich gehöre zu ihnen.“ sah er aus, als finde er das arrogant. Als ich in meiner schwulstigen Ausdrucksweise ausrief: „Wen dieses Wunderwerk (Woyzeck)[6] nicht bis ins Innerste rührt, dem ist nicht zu helfen. Man kann ihn getrost aufgeben,“ schien es mir, ihn habe das Wunder- werk nicht bis ins Innerste gerührt. Er machte am Schlusse Einwände. Er gab zu, daß meine Witzeleien an sich gut seien. Er gab mir jedoch den Rat, sie bei künfti- gen Vorträgen im Voraus auszumerzen oder sie auf einen besondern Anhang zu versparen. Ich lauschte seinem Geploder[7] nicht. Ich wußte, daß er eine Vorliebe für Sentimentalität und Würde besitzt. Ich wußte, daß er das Schablonenhafte, Ab- genützte, Unpersönliche liebt. Ich lese momentan ein französisches Buch. Ich lese es mit Hilfe zweier Dic- tionnaires, einem sehr großem und einem sehr kleinen. Ich schlage die Wörter zu- erst in dem kleinen nach. Dort finde ich sie nicht und schlage sie deshalb auch in dem sehr großen nach. Es ist ein ziemlich mühsa[m]es Lesen. Es kommt auch vor, daß ich die Wörter im sehr großen Dictionnaire nicht finde, weil ich nach der ver- kehrten Stammform suche. Das Buch, das ich lese, ist von Anatole France. Es ent- hält die Novelle „Crainquebille“ sowie etwa 10 andere Novellen.[8] Die Novelle „Crainquebille“ ist eine der allerschönsten Novellen, die ich kenne. Die 10 anderen Novellen sind meistenteils Nichtsigkeiten. Ich lese sie sehr gern. Das hängt damit zusammen, daß sie witzig, gescheit und unendlich fein sind. Es sind wie heißt doch der entsprechende traditionelle Ausdruck? Es sind Seifenblasen. (Das ist das Wort.) Zweitens hängt es damit zusammen, daß es Nichtsigkeiten sind, die der Au- tor geschrieben hat, um Nichtsigkeiten zu schreiben. Nichtsigkeiten gehen einem nur auf die Nerven, wenn sie, etwas anderes zu sein, vorgeben. Drittens liest man immer lieber ¢sch² mittelmäßige Werke eines guten Autors als gute Werke eines mittelmäßigen Autors. Dies ist eine Tatsache. Welcher normale Mensch würde sonst „Fannys erstes Stück“[9] lesen?— Ich habe jedoch auch Gelegenheit, Französisch zu sprechen. Es ist da bei uns eine Tante, die nur Französisch spricht. Sie empfing mich mi[t] einem Sturzbach
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