6 3 2 D O C U M E N T 4 1 4 N O V E M B E R 1 9 2 6 414. From Eduard Einstein Zürich, den 14. Nov. [1926][1] Lieber Papa! Der Vorsatz, Dir zu schreiben, erstand in mir, während ich gerade in einem Bu- che blätterte. Das Buch heißt: Nachgelassene Schriften eines Frühvollendeten von Otto Braun.[2] (Ich erwähne dies, um irgend einen Ausgangspunkt für meinen Brief zu gewinnen.) Ich entsinne mich, dasselbe Buch als ich vor einem Jahr in Berlin weilte, ¢auf² in Deiner Bibliothek aufgestöbert zu haben.[3] Ich habe es damals wie heute nur mit heftigem Widerwillen gelesen. Es ist Dir vielleicht auch schon auf- gefallen, daß nächst dem, von einem [mi]nder Begabten vorgeworfen zu bekom- men, daß man begabt ist, nichts so peinlich ist, wie wenn ¢man² einem ein Begabterer darlegt, daß man unbegabt ist. Doppelt peinlich ist es wenn, wie in die- sem Buche, der einem das darlegt, ein Kind ist. Ich habe das Buch verärgert bei Sei- te gelegt, da ich nicht lese, um mir unangenehme Dinge sagen zu lassen. Der einzige Trost ist für mich der Gedanke, daß es nicht so sehr darauf ankommt, ob man ein etwas mehr oder etwas minder wertvolles Individuum einer sowieso mehr als zweifelhaften Gattung ist. Zumal dieser Wert ¢nach² von sehr eigentümlichen und verdrehten Gesichtspunkten aus beurteilt wird. Zwischen einem Genie und ei- nem Trottel ist doch eigentlich ein verzweifelt kleiner Unterschied. Ich bin aller- dings überzeugt, daß ich, entdeckte ich nur die minimsten Anzeichen dafür, daß ich ein Genie bin, diese Ansicht von Grund auf umkrempeln würde. Ganz verdreht ist die Ansicht, daß d[i]e Werke irgendjemandes eine große Be- deutung hätten. Ein Kunstwerk zum Beispiel hat keinerlei Wert an sich. Das einzi- ge, was zu seinem Gunsten zu sagen ist, ist, daß es, indem es gewisse Instinkte der Menschen befriedigt, diesen erhöhtes Lustgefühl zu geben vermag und ihnen über ihre fürchterliche Langweile hinweg hilft. Schlimmer steht es mit der Wissen- schaft, so fern sie einigermaßen abstrakt ist. Sie ist ganz unnütz. Wenn Henri Poin- caré behauptet, die Betrachtung des Sternenhimmels und die Beschäftigung mit ihm mache den Menschen weitblickender oder dergleichen,[4] so sind das natürlich armselige Ausflüchte. Es ist ein arges Gebreste[5] der menschlichen Gesellschaft, daß sie jemanden, der sich von unserem Triebe, das Weltgeschehen in Zahlen und Verhältnisse einzuspannen, beherrschen läßt, dafür mit Ehren überhäuft und beköstigt.— Es gibt umgekehrt Bücher, die, wenn man sie liest, das Gefühl in einem aufkom- men lassen, man sei sehr bedeutend. Das ist eine Illusion, aber ich liebe sie. Ich habe dieses Gefühl besonders, wenn ich Schopenhauer, Nietzsche oder Oscar
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