D O C U M E N T 4 1 4 N O V E M B E R 1 9 2 6 6 3 3 Wilde[6] lese. Solche Autoren schreiben ihre Werke für ihresgleichen, sie werden aber von jedermann gelesen. Die Folge davon ist, daß Jedermann meint, er sei Ih- resgleichen, und sich im Bewußtsein seiner Bedeutung aufbläht. Im Grunde sind wir alle, die wir Bücher lesen, Krähen, die sich mit Pfauenfedern ausstaffieren. Und die wenigen Pfauen, die da sind, ziehen die Federn der anderen Pfauen bei weitem vor. Es ist fraglich, ob das richtig ist. Ich persönlich zwar würde mit einem, der nur sein eigenes karges Gefieder zur Schau trägt, den Verkehr abbrechen. Den- noch ist die Sache zweifelhaft. Im Grunde sind da zwei Ideale, die bei einem ge- wissen Punkte einander zu widersprechen beginnen. Das eine Ideal ist, sich objektiv möglichst gut zu verhalten. Das andere Ideal ist, sich so zu verhalten, wie es einem jeden entspricht[.] Im ersten Fall gehorcht man dem Intellekt, das überall ungefähr das gleiche Ergebnis zeitigt, im zweiten Falle dem persönlichen Instinkt, der so viele Ergebnisse zeitigt als es Personen gibt. Beispielsweise wäre es sicher vernünftig, wenn ich mich mit Sport und dergleichen abgeben würde. Ich tue es aber nicht, weil es lächerlich wäre, wenn ich es täte, indem es absolut nicht zu mir paßt. Durch das Lesen nun wird die Eigenart des einzelnen vollkommen abge- schliffen. Sie geht verloren unter all dem, womit man sich von außen her behängt. Es kommt schließlich sogar dazu, daß man gar nicht mehr begehrt, sie zu finden, weil der Behang viel schöner ist als die Eigenart. Im allgemeinen schadet es gar nichts. Es schadet höchstens bei einem Künstler, da dieser selber neue Behänge lie- fern sollte, wozu er der Eigenart notwendig bedarf. Bei einem exakten Wissen- schaftler wiederum, ist es notwendig, daß die Eigenart schleunig abhanden kommt, da sie ihn nur irreführt. Zu meinem Schrecken fällt mir auf, daß ich wiederum, statt Dich mit Realitäten abzuspeisen, in’s Meer der allgemeinen Phrasen mich verirrt habe. Das mag seinen Grund teilweise darin haben, daß ich nichts besonderes zu sagen habe. Doch ist noch eine andere Ursache da. Mich dünkt nämlich, man sollte in einem Briefe nur solches aufzeichnen, was so transzendent ist, daß es noch seine Gültigkeit bewahrt hat, wenn der Empfänger den Brief in die Hand bekommt. Ich gebe zu, daß das Wetter ein glänzender Gesprächsstoff ist. Ich gebe zu, daß es das Innenleben eines auch nur einigermaßen sensiblen Menschen fast ausschließlich bestimmt, aber was so[ll] Dir schließlich das Züricher Wetter von vor drei Tagen? ¢Was² Hat es einen großen Sinn, Dir zu schreiben, ob ich mich unwohl fühle, damit Du, wenn Du mir drei, wenn nicht vier Monate später antwortest, mir gute Besserung wünschen kannst? Der Hauptgrund aber ist allerdings der, daß da gar nicht so viel ist, was ich Dir schreiben könnte. Du wirst fragen, warum in aller Welt ich Dich dann über- haupt unausgesetzt mit meinen Briefen belästige. Aber sieh’ nur einmal um Dich