D O C U M E N T 9 7 D E C E M B E R 1 9 2 7 1 8 9 Haltung im Vorkriegsrussland. Durch wirklich culturelle Gesichtspunkte geleitet hat er stets sowohl gegen rechts als auch gegen links nach bestem Gewissen seine Meinungen publiziert. Falls es dazu kaeme, sich ueber die verschiedenen Gruppen gut zu informieren, wuerde ich mich in erster Naeherung durch ihn leiten lassen. Denn obwohl auch er selber mit Frau und mehreren halberwachsenen Kindern har- te Not leidet,[5] wird er, wie ich ihn kenne doch imstande sein seine eigenen Inter- essen und der von allen sauber getrennt zu halten. Lieber lieber Einstein! Hoffentlich unberechtigterweise, aber unabschiebbar habe ich das mir schmerzliche Gefuehl, dass ich Dir fremder und fremder werde. Ich BEGREIFE es ganz gut, denn wir werden aelter und aelter und da unvermeid- lich doch neue und neue Mensche[n] in unser Leben eintreten, muessen die aelte- ren Verbindungen mehr und mehr verblassen. Ich begreife es, und ich WILL absolut gar nichts von Dir. Eigentlich moechte ich nur das Gefuehl das ganz ganz vage Gefuehl behalten, dass wir ploetzlich doch wieder warm auf einander reagie- ren KOENNTEN, wenn es eines Tages ploetzlich DARAUF ANKAEME! Diese und aehnliche ILLUSIONEN sind notwendig und hinreichend um nicht allmaeh- lich die Welt als eine graue leere Hoehle zu fuehlen. Was ich in zusammenhanglosen Brocken von neuester Musik (Honnegger, Hindemit)[6] und anderen Kunstaeusserungen zufaellig kennen lerne, beginnt trotz schwieriger Verstaendlichkeit eine merkwuerdige Gewalt ueber mich zu bekom- men und beeinflusst vor allem merkwuerdig stark meine Reaction auf alle aeltere Kunst, die nicht GANZ hochsteht. Ich bedaure nun sehr, dass ich nicht unter guter Leitung von diesen Stroemungen die wirklich besten Repraesentationen kennen lernen kann. Seit Monaten unter einer Compacten grauen Wolkendecke in Nebel und Nebel- regen! Ich sehne mich SCHRECKLICH nach Schnee mit Sonne und grossem alten Baeumen hoch im Gebirge! Ich sehne mich nach Kräftiger[7] FARBIGKEIT!!!! Lieber lieber Einstein! Denke manchmal mit ein wenig warmer Zuneigung an mich! Es thut mir so leid, dass Du Sorgen und Verdruss hast![8] Sei recht innig gegruesst. Dein P. Ehrenfest Gruesse Deine Frau von mir und Ilse und Margot![9] Es ist durchaus nicht noethig, dass Du antwortest!!![10] Könntest Du nicht wenigstens Tanitschka aus diesem grauen Sumpf heraus- locken nach Weihnachten macht sie ihr “Doctoral examen”[11] Sie muss hinaus! (Zürich?!— Hamburg?) Meine Frau fühlt sich in Simferopol ganz besonders wohl und ist gepackt durch ihre gesamte Thätigkeit.[12] Sie ist wirklich ein prächtiger Mensch!
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