D O C U M E N T 1 0 4 D E C E M B E R 1 9 2 7 1 9 9 Parallelensatz. Übertrage ich sie auf menschliche Verhältnisse, so muss ich für un- moralisch folgendes ansehn: 1. was das Leben zugunsten einer Idee unterdrückt oder einschränkt, oder das Leben einer Idee dienstbar machen will. (Viele Religionen und Moralen. Staat und Gesellschaft, sofern sie sich nicht dem Individuum absolut unterordnen, und sofern sie andre Gesetze als die natürlichen gelten lassen.) Dieser Punkt ist zu häufig über- zeugend dargestellt worden, als daß sich auf ihm herumzureiten verlohnte. 2. Was eine Verfeinerung des Menschen erstrebt (Kultur). Verfeinerung von ei- nem bestimmten Grad an ist mit Lebensunfähigkeit identisch. Insbesondere unmo- ralisch sind Bestrebungen, des Menschen Affekte auf ein andres als das natürliche (das geistige) Gebiet hinüberzulenken. Die geistige Entladung ist ein lahmes Ven- til, für Fälle, wo die Affekte zu einer körperlichen Entladung nicht genug Kraft ha- ben oder eine körperliche Entladung gehemmt ist. (Dieser Abschnitt bezieht sich auf Kunst und Wissenschaft). Eine Verfeinerung des Bewußtseins arbeitet dem Leben direkt entgegen. Dies ist minder häufig als das vorige dargestellt worden. Selbst bei Nietzsche und Frank Wedekind steht wenig davon.[6] Immerhin möchte ich auf Werke wie der Tor und der Tod von Hugo von Hofmannsthal und auf fast sämtliches von Thomas Mann, namentlich den Tod in Venedig hinzuweisen nicht versäumen.[7] Wenn nichts sonst, so sollte eine Karikatur des geistigen Menschen wie ich Dich überzeugen. 3. Was der natürlichen Rangordnung entgegenarbeitet. (Demokratie, Ideale von „Menschlichkeit“ und so). Die sexuelle Liebe hat im Großen Ganzen die natürliche Rangordnung. Die geistige Liebe ist bereits Verfälschung. Die Nächstenliebe und das Mitleid (die ich mir durch Projektion des eignen Ichs in andre Personen ent- standen denke) sind vollends gänzlich unmoralisch. Förmlich Todsünde ist aber, Lebensunfähiges aus Menschlichkeit künstlich am Leben zu behalten. 4. Todsünde ist weiter alles, was eine Verschlechterung der menschlichen Rasse, wenn auch im Kleinen, bewirkt, also voraussichtlich minderwertige Kinder zu zeu- gen, wobei unter „minderwertig“ über Krüppel und Kretins hinaus ein großer Pro- zentsatz der „gesunden“ Menschen durchaus eingeschlossen ist. Namentlich sollten intensive geistige Arbeit und Fortpflanzung einander immer ausschließen. Dagegen braucht, was man gemeinhin als „unmoralisch“ bezeichnet, Totschlag und Trug, gar nicht unmoralisch zu sein. Es stört den Staat und die öffentliche Bequemlichkeit, doch sind der Staat und die öffentliche Bequemlichkeit keine Werte an sich. Der Selbstmord vollends ist in den meisten Fällen über die Maße moralisch.
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