D O C U M E N T 1 0 8 D E C E M B E R 1 9 2 7 2 0 3 nen Endzweck, der ausserhalb des Lebens liegt“ erkenne ich durchaus an. Aber da- mit hat man noch wenig an Klarheit gewonnen. Leben im Sinne von nacktem Existieren und Funktionieren ist doch sicher kein würdiges Ideal, nicht einmal das „glücklich leben“, weil das Sauherdenideal ausgeschlossen werden muss.[4] Man muss sich also auf das Ideal des „schön lebens“ einstellen, in dem Bewusstsein, dass die Entscheidung darüber, was dies eigentlich sei, dem Gefühl überlassen blei- ben muss. Menschen, die eine Lebensgemeinschaft bilden, sich freuen, wenn sie einander in die Augen sehen, ihre Sorgen teilen und ihre Anstrengungen darauf richten, was ihnen am Herzen liegt, denen dies Streben eine Quelle von Freude ist, die leben ein volles Leben. Gesundheit, Freude am geistigen und künstlerischen Spiel, am Humor, gehören für mich dazu. Das Leben zugunsten einer Idee kann gut sein, wenn diese Idee lebenspendend ist und das Individuum aus der Ich-Fessel erlöst, ohne es in andere Knechtschaft zu stürzen. Wissenschaft und Kunst können so wirken, aber sie können auch zur Knechtung oder kränklicher Verweichlichung und Überfeinerung führen. Dass die- se Bestrebungen aber zur Lebensunfähigkeit führen müssen bestreite ich. Schlies- slich ist selbst Wasser ein Gift, wenn man darin ersäuft. Wenn eine Verfeinerung des Bewusstseins mit einer Degeneration äquivalent wäre, so wäre die Entwick- lung vom Fisch zum Menschen als ein degenerativer Prozess zu betrachten, was doch gewiss nicht Deiner Meinung entspricht. Man kann ein frohes, vitales Ge- schöpf sein und zugleich ein verstehendes, denkfreudiges mitfühlendes. Du sollst keine „Karikatur des geistigen Menschen“ sein, aber neben einem thätigen, fühlen- den und genussfähigen auch ein geistiger. Die Griechen haben recht, wenn sie in dem Ebenmass das Ideal sehen. Von „natürlicher Rangordnung“ will ich nichts wissen Demokratie und Mensch- lichkeit sind ein natürlicher Ausfluss eines gesunden sozialen Gefühls. Wenn Du nicht abstrakt denkst sondern Dir die besseren Deiner Mitschüler und sonstigen Dir näher bekannten Menschen ansiehst, dann siehst Du nichts von Rangordnung. Der Gesunde und harmonisch fühlende hat Freude an seinem Freund, seiner Geliebten, seinem Hunde und was sonst herumkrabbelt und freut sich an seineraller Freude und aller Leben und nimmt jedes, wie es eben ist. Die Verschlechterung der Rasse ist gewiss etwas Übles, eines der schlimmsten Dinge. Deshalb kann ich Albert seine Sünde nicht vergessen.[5] Ich vermeide es in- stinktiv mit ihm zusammenzutreffen, weil ich ihm kein frohes Gesicht zeigen kann. Aber dass gesunde geistige Arbeit (nicht die unsinnig gesteigerte) die Fortpflan- zung schlecht beeinflusse, das glaube ich nicht. Glaubst Du, dass Dein Vater da ge- sündigt hat? Vielleicht. Dann verzeih mir Deine Existenz. Schliesslich kann ja die starke Gedankenzeugung und die Kinderzeugung wenn nötig separiert werden.