D O C U M E N T 1 1 9 J A N U A R Y 1 9 2 8 2 1 7 Feder, welche man aufzieht, damit sie die Räder treibt. Diese Feder sind die Affek- te. Nun denk Dir eine Spiellokomotive, weniger exakt ausgeführt: sie hat zwar eine Feder, eine prächtige Feder, auch voll entwickelte Räder, aber die Zahnräder grei- fen nicht mehr genau in einander, es macht schließlich Mühe, die Räder zu drehen. Es kann dazu kommen, daß die Feder mit dem ersten Zahnrad gar nicht mehr die folgenden Räder anpackt. Es ist ein Zwischenraum da: das ganze ist ein bischen locker. Die Lokomotive bleibt nunmehr beharrlich stehn, während die Feder in ra- sender Hast läuft. Die Kinder, die sie aufgezogen haben, denken: was ist mit der Lokomotive los? Ist sie etwa kaput gegangen? Die Lokomotive jedoch, befreit, ruft aus: Wie wohl mir ist! Ich fühle mich ganz befreit. Das ist etwas anderes, als das nackte Leben und Funktionieren: minder mühsam, aber weit unbehinderter! Du kannst mit gewissem Recht einwenden, Du sähest in der Wirklichkeit nichts Analoges. Menschen sähest Du, die geistige und körperliche Qualitäten in wunder- voller Weise einen. Du betrachtest diese Menschen direkt als Ideal. Ich bestreite die Existenz solcher Menschen nicht (ihre Menge ist übrigens minim), ich sage nur dies: der Tendenz nach erzielt jede Benutzung des Geistes als Instrument für sich eine Abspaltung des Geistes vom Körper und in sofern (der Tendenz nach) eine Schwächung des Lebens. Im einzelnen Falle braucht das nicht sichtbar zu werden. Hiezu kommt, wie ich bestimmt glaube, daß die Verfeinerung der Empfindung, die unter den jetzigen Umständen immer zunimmt, von einem bestimmten Grad an der Fähigkeit zu leben und zu handeln, direkt entgegen läuft. Ich glaube nicht, daß Du das mit gutem Gewissen bestreiten kannst. Unter Leben muß ich nach wie vor das nackte tierische Leben verstehen und „schön leben“ und derlei als schiefen Kompromiß ablehnen. Wenn Dir das bloße Funktionieren schal vorkommt, kann ich nur wiederholen: um so schlimmer für Dich—um so schlimmer für uns, denn ich habe das Gefühl natürlich auch. Man kann den Grad der Degeneration eines Wesens aus dem Grad seiner Ablehnung des nackten Lebens ungefähr ablesen. Übrigens hab ich den Verdacht, daß Dein „schön leben“ unsrem Sauherdenideal bedenklich nahe kommt. Ist es nicht überhaupt nur eine subtilere Fassung dafür? Für das aesthätische Gefühl habe ich im allgemeinen wenig übrig. Ich denk es mir als widriges Gemisch von Geist und Sexualität. Ich stelle mir vor, daß beim Menschen gleichsam das Gefäß für Sexualität aus Mangel an Abflüssen geplatzt ist und die ganze Seele mit Sexualität mehr oder weniger tränkt. Die sogennante Sub- limierung. Sublimierung ist für mich der Inbegriff der Sünde. Ich möchte noch auf einiges Einzelne in Deinem Brief eingehen, in der Art, wie ein Pfarrer für seine Predigt sich den geeigneten Bibeltext ausliest. Ob die Entwicklung vom Amphiox bis zum Affen eine fortlaufende Degenera- tion darstellt, ist schwer zu sagen. Schwer zu sagen deshalb, weil jedes Tier, sofern es in der Wildnis gedeiht, von der Natur eigentlich als brauchbar abgestempelt ist.
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