2 1 8 D O C U M E N T 1 1 9 J A N U A R Y 1 9 2 8 Den Mensch allerdings scheint die Natur allmählich fahren zu lassen. Hievon pro- fitiert die Medizin. Das einzige, was für mich feststeht, ist, daß die Entwicklung vom niedern Affen zum Menschen eine Degeneration darstellt. Zwischen den ein- zelnen Tierarten wage ich (von einzelnen Fällen abgesehn) nicht, eine Rangord- nung aufzustellen. Du sprichst mit Vorliebe von dem „gesunden sozialen Gefühl.“ Ich möchte zu fragen nicht unterlassen, woher Du weißt, daß es gesund ist? Hast Du es (vulgär ausgedrückt) aus den Fingern gesogen? „Die Griechen haben recht, wenn sie in dem Ebenmaß das Ideal sehen.“ Ich rate Dir: nimm Dich vor den Griechen in Acht. Die Griechen sind für Leute Deiner An- schauung das Glatteis. Es kann sein, daß sie unter Ebenmaß etwas ganz anderes verstehen verstanden als Du. Man muß unter den Griechen Unterschiede machen. Die Griechen bei Homer hatten als Ideal den Achilles, der also gänzlich Körper und Kraft war, und höchstens noch den Odysseus, dessen Verstand als List und Lügen- haftigkeit ganz egoistischem Interesse diente. Der Sänger in der Odyssee ist ganz konsequenterweise blind.[3] Es ist deutlich genug ausgedrückt, daß er die Dicht- kunst an Stelle des andern Lebens erhalten hatte.— Daß die Griechen in gewissen späten Epochen minder gesund dachten, muß leider bestätigt werden. Ich meine also Platon. Platon, in denjenigen seiner Schriften, die die Seele lobpreisen, ist ein Hort der Unmoral. Man sollte diese Schriften Unreifen nie in die Hand geben. Das Gastmahl macht eine löbliche Ausnahme.[4] Bei Platon hebt jene Neigung zur Überschätzung der Seele an, die das Wesen des Christentums ist, und die selbst heute noch nicht ganz überwunden zu sein scheint. Nun zu dem Ebenmaß. Es scheint mir ein wesentlicher Einwand gegen den Geist. Es kommt darauf an, wo Du Ebenmaß studierst. Du darfst es nie bei Kon- gressen und Abendvisiten studieren. Einzig wesentlich ist körperliches Ebenmaß. Ein für alle Male ist Prüfstein für die Eignung eines Menschen nicht Latein und Physik, vielmehr Rekstange und Rennbahn. Und daß nicht die gleichen im allge- meinen geistig glänzen und körperlich harmonisch sind, kann ich aus jahrelanger Erfahrung heraus mit viel Überzeugung sagen. Die Harmonie eines Tigers ist von Menschen überhaupt nicht mehr zu erreichen. Lies übrigens zu diesem Thema den Roman von Bernhard Shaw „Cashel Byrons Beruf.“[5] Ich werde ihn Dir vielleicht zum Geburtstag schenken. Über solche Sachen mag man getrennter Meinung bleiben. Als ich aber in Dei- nem Brief als Rechtfertigung der Idee las: sie könne aus der Ich-Fessel erlösen, da sträubten sich mir die Haare. Das ist ein direktes Attentat gegen das Leben! Der bloße Gedanke ist Todsünde. Ich hoffe, Du hast das nicht ernst gemeint. Ich glaube, es ist Mystik oder etwas Schlimmeres. Ich will hier abbrechen. Bist Du stark beschäftigt? Ich will Dich nicht länger aufhalten. Ich werde den Gedanken nicht los, daß Dich meinen breiten Moralen arg
Previous Page Next Page