6 7 4 D O C U M E N T 4 7 1 M A R C H 1 9 2 9 471. From Sigmund Freud Wien, IX., Berggasse 19. 26. 3. 1929 Verehrtester! Sie haben natürlich Recht Da ich sowenig von Ihnen weiß, habe ich kein Recht, Sie glücklich zu preisen,—während ich innig wünsche und hoffe, dass Sie es sind.[1] Meinen Sie aber nicht, daß ich Sie zu einem Briefwechsel veranlassen will, wenn ich jetzt der Versuchung nachgebe, meinen Übergriff aufzuklären Ich bitte Sie im Gegenteil mir nicht zu antworten. Es wird mir leichter zu schreiben, wenn ich damit rechne. Das Glückwünschen ist mir so herzlich zuwider, es erscheint mir so wolfeil und primitiv animistisch, als glaubte man noch an die „Allmacht der Gedanken.“ Wenn wie in Ihrem Falle noch das Geben ausgeschlossen ist so gerät man, auf der Suche nach einem Ausdruck für Bewunderung und Sympathie, leicht auf einen Abweg wie der, den Sie mir vorhalten. Es zeigt sich dabei, wie zweckmäßig doch die dum- men Konventionen unserer Gesellschaft sind, und daß man auch verständiger Wei- se, dasselbe thun sollte, was alle thun. Doch hatte, was ich Ihnen schrieb, für mich einen guten Sinn Es war der Aus- druck meines Neides, zu dem ich mich ohne Scheu bekenne. Neid muß nichts Häß- liches sein. Neid kann Bewunderung einschließen und ist mit den freundlichsten Gefühlen für den Beneideten vereinbar. In der Entscheidung, wegen welcher Dinge ich Sie beneiden müßte, war ich aber durch meine Unwissenheit nicht gestört. Da war vor allem die Erwägung, wie viel glücklicher es doch ist ein Vollender zu sein als ein Pionier. Ich meine, es gehört nicht grade eine besondere intellektu- elle Begabung dazu, um ein neues Gebiet in der Wissenschaft oder Technik zu eröffnen. Eher gewiße Charaktereigenschaften, ein Wagemut wie der eines Aben- teurers, eine Fähigkeit sich selbst viel zu glauben—eine Art von Geringschätzung des Einvernehmens mit den Anderen. Man wird dafür leicht berühmt—oder auch berüchtigt, aber wenn man etwas Kritik bedacht hat, kann man doch nicht überse- hen, wie roh, unvollkommen, fragmentarisch eigentlich eine solche erste Leistung auf dem Neuland ist, wie geeignet, einem den Eindruck der Schwäche des einzel- nen Intellekts gegen die Größe der Aufgabe zu vermitteln. Wenn es psychologisches Neuland ist kommt etwas anderes hinzu. Alle unsere Aufmerksamkeit ist nach außen gerichtet, von wo die Gefahren drohen und die Befriedigungen locken. Von innen her wollen wir nur Ruhe haben. Wenn nun jemand den Sinn nach in- nen wenden, ihm gleichsam den Hals umdrehen will, so sträubt sich unsere Orga- nisation dagegen etwa wie sich Speiseröhre und Harnröhre sträuben, wenn sie entgegen ihrer Funktionsrichtung passirt werden sollen. Alle Welt widerspricht dann und dieser Widerspruch durch Dezennien von ungezält vielen Menschen macht einen nicht irre aber macht einen müde. Und grade auf psychologischem Gebiet wird allen der Widerspruch so leicht. Zu der Astronomie, Physik, Chemie