432 DOCUMENT 374 MARCH 1912 374. To Alfred and Clara Stern Prag. 17. März. [1912][1] Lieber Herr & liebe Frau Prof. Stern! Sie haben mir mit Ihren freundschaftlichen Zeilen[2] eine grosse Freude ge- macht und können sich kaum vorstellen, wie sehr ich mich darauf freue, das gemütliche Leben in Zürich wieder weiterführen zu können.[3] Die hiesigen Universitätsmenschen[4] können das nicht begreifen. Sie sehen (indem sie ihre Beziehungen zu Freiburg[5] auf die ganze Schweiz verallgemeinern) die Schweiz an als eine Art Versuchsfeld für junge Akademiker, d. h. ein Feld, auf dem junge Dozenten ausprobiert werden, die man dann jederzeit wieder haben kann, falls es dem k. k. Ministerium[6] genehm ist. So pflegt man in meiner Rückkehr nach der Schweiz noch mehr eine Eselei als eine Undank- barkeit zu sehen.[7] Eine gewisse Undankbarkeit ist es sicher aber im schön- sten Lichte zeigt sich ein Wohlthäter nur da, wo ihm mit Undank vergolten wird. Also muss doch die Fakultät und das Ministerium froh sein, dass ihnen dazu verholfen wird, diese höchste Stufe der Wohlthäterschaft zu erklimmen. Von uns gibt es nicht viel zu erzählen. Unsere Bärchen[8] machen uns gros- ses Vergnügen, und der grössere bemüht sich schon mit etwas Erfolg ein rich- tiger Bär zu werden. Er hat z. B. schon angefangen, mit grossem Eifer Klavier spielen zu lernen. Ich arbeite mit Hochdruck an einem Problem (Gravita- tion).[9] Deshalb bitte ich Sie, mir mein langes Schweigen nicht übel zu neh- men. Hoffentlich geht es Ihrer Mutter wieder ganz gut, sodass Sie wieder ohne Sorgen leben können in Ihrem gemütlichen Hause.[10] Im Winter hatte ich Besuch von meiner Mutter und von einem Studien- freund & lernte dabei die architektonischen Schönheiten Prags erst recht ken- nen. Ein kürzerer Aufenthalt in Prag-nur zum Vergnügen-lohnt sich aus- serordentlich. Aber hier zu leben hat seine bedenklichen Schattenseiten. Kein trinkbares Wasser Viel Elend neben Protzerei und Hochmut. Standesvorur- teile. Wenig echte Bildung. Alles byzantinisch und pfäffisch. Mein grösseres Bärchen muss in den katholischen Religionsunterricht und-horribile dik- tu-in die Kirche.[11] Die Tintenscheisserei im Amte ist endlos-alles, wie es scheint, um dem Tross von Schreibern in den Staatskanzleien einen Schein von Daseinsberechtigung zu geben (Der Satz ist nicht übel wenn er gedruckt wäre, würde er vielleicht in Ihrer schönen Sammlung verewigt). Wenn ich ins