170 DOCUMENT 118 SEPTEMBER 1915
118. To
Romain Rolland
Zürich.
15. September. [1915][1]
Hoch
geehrter
Herr!
Ihre herzliche
Aufforderung,
Sie in
Vevey zu
besuchen,
erhöhte
noch meine
Lust,
dorthin
zu
fahren,
um
einen der
wenigen
versöhnlichen
Europäer
kennen
zu
lernen. Nun lassen
mir
meine verschiedenen
Obliegenheiten
nicht Zeit
zu
dieser
Reise
übrig;[2]
so
will ich
wenigstens
die
Zeit
meines Aufenthaltes in der Schweiz
benützen, um
Ihnen einen unzensierten
Brief
zukommen
zu
lassen.
Der
Verein
"Neues
Vaterland“
macht
ziemlich schwere Zeiten
durch, er
wird
von
der
Auf-
sichtsbehörde
chikaniert
und
von
der
Presse
verdammt
(in
der
Hauptsache).[3]
Es
sieht
so aus,
als ob die
Militärpartei
bezw. die Alldeutschen
durch die
Erfolge
in
Russland
an
Einfluss
auf
die
Regierung gewonnen
hätten.[4]
Andererseits aber ist
bei den in wirtschaftlichen
Dingen
einsichtsvollsten Leuten
meiner
Bekanntschaft
die Zuversicht
nicht
besonders
gross; es
scheint dies mit dem
Mangel
an gewissen
Rohmaterialien
zusammenzuhängen.[5] Merkwürdigerweise
findet
man
in
Deutschland neben
wunderlicher
Selbstüberhebung
eine Liebe
zu
Frankreich und
seiner
Bevölkerung, wogegen grosser
Hass
gegen England
ziemlich
allgemein
ist.[6]
Bei der
urteilslosen
Menge
ist
Zuversicht auf
den
Sieg
ziemlich
allgemein
und nicht minder
eine
Annexions-Gier. Es ist
sonderbar,
wie der Mann
aus
dem
Volke sich für seine schweren
Opfer
entschädigt
fühlen kann durch
Länderraub,
von
dem
er
persönlich
doch
gewiss wenig
hat.-
Hoffentlich
kommt
es
nicht
so
weit!
Ein entscheidender
Sieg
Deutschlands wäre für
ganz Europa,
insbesondere
aber
für dies Land selbst ein
Unglück.[7]
Zu den
betrübendsten
Erscheinungen
dieser
schrecklichen
Zeit
gehört
es,
dass
die
geistigen
Arbeiter
vielfach
so ganz
ihre
Fassung
verloren haben.
Leider
muss
ich
sagen,
dass
der
unglückliche
und lächerliche
Federkrieg
in
Berlin
seinen An-
fang genommen
hat. Sie werden sich
gewiss gewundert
haben,
dass
so
viele in
Friedenszeiten mit
Recht
für besonnen
angesehene
Männer den
berüchtigten
"Auf-
ruf
an
die Kulturwelt“
unterzeichnet
haben.[8]
Die
Verurteilung
dieses Schrittes ist
jetzt
auch in Berlin
ziemlich
allgemein.
Gerade die besten Leute hatten
übrigens
ihre Unterschrift
telefonisch gegeben,
ohne den
Aufruf
gelesen
zu
haben![9]
In letz-
ter Zeit
war
in der Akademie
grosse Aufregung,
weil einer
auf
Violles Akademie-
rede hin den
Antrag gestellt hatte,
die
Beziehungen
zu
den französischen Akade-
mien abzubrechen. Dabei trat
etwas
merkwürdiges
ein: fast alle
Historiker,
Philo-
logen
etc.
unterstützten den
Antrag,
während
fast alle Naturforscher und
Mathematiker
eifrigst
bemüht
waren,
die
internationalen
Bande
zu
erhalten. Gott-
lob haben
letztere,
wenn
auch mit
kleiner
Majorität gesiegt;
besonders
Planck
(Physiker)
und
Fischer
(Chemiker)
haben sich
durch
grosse
Entschiedenheit
und
Festigkeit
verdient
gemacht.[10]
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