918 DOCUMENT
639
OCTOBER 1918
639. From Hans
Mühsam[1]
Lüttich II.
Kriegslazarett
II/126. 24/X 1918.
Sehr verehrter
Herr
Professor!
Wie Sie
aus
dem Datum
ersehen,
habe ich mich
an
der
allgemeinen Bewegung
beteiligt
und mich
strategisch
rückwärts concentriert.
Wie
lange
wir
hier,
in
Lüttich,
bleiben
werden,[2] hängt
auch
weniger
von
der ärztlichen
Bethätigungsmöglichkeit
als
von
Wilson
ab.
Ist
es
nicht
scheußlich,
daß Tausende
junger
Menschenleben
von
der Feilscherei der
Machthaber,
ihrer
Bereitwilligkeit,
mehr oder
weniger
schnell
zu
antworten und ihrem
doppelzüngigen Ränkespiel
abhängen?-[3]
Dieses elende
Wort: "Gerechtigkeit"
hat alles
Unglück
über die Welt
gebracht.
Der
eine definiert
das Wort
von
seinem
Standpunkt,
und der
andere,
der eine andere
Weltanschauung
hat,
definiert
es
anders. Und beide Seiten
mögen
vielleicht nicht einmal den
guten
Willen
haben,
es
auch
nur subjectiv
richtig
zu
definieren. Wenn
Gerechtigkeit: glei-
ches Recht für Alle
bedeutet, so
ist damit schon der Grund
gegeben,
warum
die An-
wendung
eines
solchen
Princips
zu
Streit
und
Verwirrung
Anlaß
geben
muß. Denn
das natürliche
Princip
der
organisierten
Natur fordert das Vorrecht des Stärkeren.
Wenn auch die Darwinsche Annahme
einer
unbeschränkten erblichen Variabilität
nicht
aufrecht erhalten werden
kann;
so
ist die These des Überlebens
und
der Aus-
breitung
der
besser
angepaßten
Varietät
und,
innerhalb
dieser,
der
tüchtigsten
Indi-
viden unbestritten. Die Wanderratte hat die Hausratte
verdrängt, entgegen
dem
er-
erbten
Recht,
und
unter
anderen Tierarten sehen wir
derartige Erscheinungen
zu
hunderten. So sind auch die
geistig wenig regsamen
dunklen Völker Oceaniens und
Amerikas
von
der weißen
Rasse
verdrängt
und mehr
oder
weniger
bewußt
ausge-
rottet
worden.
Das ist
bedauerlich,
entspricht
aber dem
natürlichen
Princip.
Dem
Stärkeren,
Tüchti[ger]en,
besser
Angepaßten
muß sein
Vorrecht
werden;
es
ist ihm
auf
die
Dauer
nicht
vorzuenthalten,
ohne daß schwere Conflicte entstehen. Wenn
der
Völkerbund,
den
man
jetzt
plant,[4]
alle Völker
resp.
Nationen der Erde
um-
schließen
soll, so
würde
es
meines Erachtens ein Fehler
sein,
der sich schwer rä-
chen
würde,
wollte
man
allen in der Art
gleiches
Recht
geben,
daß keines sich über
das
Gesamtniveau
erheben,
seine
Überlegenheit
zur
Geltung bringen
und
aus
ihr
seinen
Nutzen,
d. h. die materiellen
Bedingungen zu
seiner
Weiterentwicklung
zie-
hen könnte.
Das wäre eine
Sünde
wider die Natur und
könnte deshalb
nicht
von
[D]auer
sein. Meiner
Meinung
nach müßte sich der Völkerbund
auf
den Schutz der
Schwächeren
beschränken,
der
aber
auch
nur so
weit
gehen
darf,
als
man
diesen
die wirtschaftliche Existenz
garantiert.
Wäre
es
etwa
richtig,
Ecuador
oder Siam
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