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dem Eindruck des Unglückes und fürchtete mich vor dem Berliner Verkehr. Mitt-
lerweile habe ich mich jedoch überzeugt, daß die Gefahr der Straße hier ebenso-
groß ist. Sie liegt darin, daß man umso leichtsinniger wird, bzw. umso weniger zum
Aufpassen erzogen wird, je weniger Automobile verkehren.
Nun endlich zur Beantwortung Ihrer Fragen. Es wurden mir seinerzeit monatlich
M. 240 als Hilfsarbeiter zugesagt. Wenn ich mich recht erinnere, war es ausge-
schlossen, vor Ablauf von 10 Dienstjahren mehr zu bekommen, abgesehen natür-
lich von den Teuerungszulagen infolge des Krieges. Von einem solchen Sümmchen
in Berlin zu leben, erschien mir ausgeschlossen. Meine bessere Ernährung hier und
die dadurch gesicherte bessere Pflege meines Gehörs waren mir mehr wert als das
Gefühl, bei der Reichsanstalt untergebracht zu sein.
Aber auch die Freiheit des Forschens hier gegenüber den ganz erheblichen Be-
schränkungen in der Reichsanstalt schien mir die Vorteile des Geborgenseins auf-
zuwiegen. Ich habe mich seit Abschluß meines Studiums nach der Arbeitsweise
der Reichsanstalt, wie sie sich tatsächlich im Vergleich mit dem Arbeiten an Uni-
versitäten herausgebildet hat, erkundigt, wo ich konnte, aber nie etwas Günstiges
erfahren. Der Zwang, eine bestimmte Aufgabe verfolgen zu müssen, ohne sich den
oft—ich möchte fast sagen meist—fruchtbareren und wertvolleren Nebenresulta-
ten oder Entdeckungen widmen zu können, muß als sehr lästig empfunden werden
und gibt dem Arbeiten unzweifelhaft etwas vom Kunsthandwerk.
Wie wertvoll die völlige Freiheit in der Wahl des Arbeitsgebietes ist, habe ich
schon mehrmals an mir erlebt. So ist z. B. mein Abbiegen vom Forschungswege
zur Polarisation nach der kristallographischen Seite hin zweifelsohne außerordent-
lich viel fruchtbarer gewesen als die direkte Ausführung der Polarisationsmessung,
wie ich sie 1913 mit Herrn Geheimrat Wien verabredet hatte. Mittlerweile ist näm-
lich die Debye–Scherrersche Methode entdeckt worden, die das ganze Problem
verhältnismäßig geradezu spielend zu lösen
gestattet.[6]
Meine ganze Mühe wäre
ziemlich wertlos gewesen, wenn ich den anfangs beschrittenen Weg verfolgt hätte.
Auch bei meiner Dissertation war es ähnlich.
In der Reichsanstalt ist ein freiheitliches Arbeiten nur für den höher stehenden
Beamten möglich. Die Hilfsarbeiter sind so stark gehemmt, daß ich meine besten
Jahre so gut wie opfern müßte, um schließlich die genügende geistige Freiheit zu
bekommen. Ich bemerke ausdrücklich, daß mir an Rang und Titel nichts liegt, aber
ich muß leben und geistig unabhängig forschen können. So wie ich es hier im In-
stitut habe, müßte es sein. Ich rangiere in Bezug auf Anspruch auf Apparate, Me-
chaniker und sonstige Hilfsmittel durchaus als letzter. Auch mein Zimmer
vertauschen muß ich sofort, wenn es irgendwie nötig erscheint. Das ist tatsächlich
in den letzten zwei Jahren viermal vorgekommen. Einmal mußte ich sogar ganz
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