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146. From Hans Thirring
Wien, 20. X. 1919.
Sehr geehrter Herr Einstein!
Soeben lese ich in den „Naturwissenschaften“ Ihre kleine Notiz über die Ver-
schiebung die
Fixsternörter.[1]
Obwohl ich, seitdem mir das Verständnis für die
Gravitationstheorie aufgegangen ist, nie an die Existenz dieses Effektes gezweifelt
habe, freute ich mich doch über seine Entdeckung unbändig und spreche Ihnen
meine herzlichsten Glückwünsche dazu aus.
Wenn ich die überschwängliche Redeweise eines d’Annunzio hätte, würde ich
jetzt ausrufen: Dieser T[ag] stempelt Sie zum größten Physiker der
Welt![2]
Ich war im Juli wieder auf eine Woche in Berlin—leider wieder gerade zu einer
Zeit, wo Sie nicht da
waren.[3]
Haben Sie seinerzeit (vor ca 8 Monaten) die 10 Se-
paratabdrücke meines kleinen Vortrages über Gravitationstheorie
erhalten?[4]
Ich stelle gegenwärtig einige nicht ganz uninteressante Spekulationen über
Atombau und Krystallstruktur an—eine erste Mitteilung darüber wird dieser Tage
an die Phys. Zeitschr.
abgehen.[5]
Es läßt sich nämlich auf Grund der Sohnke-
Schoenfließschen Theorie ganz streng beweisen, daß es unmöglich ist achsialsym-
metrische Atome in einem Braggschen Diamantgitter so anzuordnen, daß die f. d.
Diamant makroskopisch experimentell ermittelte Symmetrieklasse heraus-
kommt.[6]
Analog laßt sich zeigen, daß man mit solchen achsialsymmetrischen
Atomen unter Zugrundelegung des Braggschen NaCl Gitters wohl ein Gebilde mit
regulär holoedrischer Symmetrie (NaCl) aber keines mit der enantiomorph he-
miedrischen Symmetrie des regulären Systemes (KCl) aufbauen kann. Da nun mei-
ner Ansicht nach nichts anderes als die Valenzelektronen für die verschiedenen
Äußerungen der Krystallsymmetrie (Spaltbarkeit, Ätzfiguren, optisches Verhalten)
verantwortlich gemacht werden kann folgt daraus zwingend, daß die C-Atome des
Diamanten und die K-Atome des KCl keine ebenen Planetensysteme sein können.
Weiters läßt sich zeigen, daß Atome, deren Elektronenbahnen Polyedersymmetrie
haben, die makroskopisch gefundenen Symmetrieverhältnisse zu erklären vermö-
gen.
Das weitergehende Problem, über dessen Lösung ich nun studiere, ist nun das
folgende: Die Krystallstruktur ist jedenfalls durch den Bau der den Krystall konsti-
tuirenden Atome bezw. Moleküle bestimmt. Läßt sich nun auf Grund der Kossel-
Born-Landé schen Anschauungen zwangsläufig beweisen, daß NaCl gerade so und
ZnS gerade so und FeS2 gerade so gebaut sein
muß?[7]
Gewisse Anhaltspunkte habe ich schon gefunden, ich hoffe aber noch tiefer in
die Sache eindringen zu können.