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Aussicht auf viel freie Zeit bieten, was bei dem großen Angebot an Stellung Su-
chenden kein Wunder ist. Anderseits drängt mich allerdings meine materielle Lage,
mich immer mehr nach einem Erwerb umzusehen. Ich habe mich aber auf den Rat
meines Freundes Prof.
Ehrenhaft[3]
entschlossen, mich solange im akademischen
Beruf zu halten, als es die Reste meines Vermögens gestatten, was freilich wegen
der verkehrten Sozialpolitik unserer Regierung von Tag zu Tag schwieriger
wird.[4]
Gestatten Sie, daß ich in dieser Hinsicht eine andere Aussicht erwähne, die sich
mir zu bieten scheint: Mit der theoretischen Physik sieht es ja wohl schlecht aus,
viel besser hingegen mit der Mathematik. Nun bin ich eigentlich von Haus aus
mehr Mathematiker und für mathematische Physik
habilitiert,[5]
meine Arbeiten
stehen an der Grenze beider Gebiete. Ich fühle mich daher befähigt, eine Lehrstelle
für angewandte Mathematik anzustreben. In dieser Richtung hat mir Prof. Mises,
als er im Herbst in Wien war, einige Versprechungen gemacht, die sich auf Dresden
hätten beziehen sollen. Nun ist er allerdings nach Berlin berufen worden, woraus
ich mir erkläre, daß ich bisher noch nichts von ihm gehört habe. Seine gegenwärti-
ge Adresse weiß ich leider nicht. Dürfte ich mir da die große Bitte an Sie erlauben,
ob Sie für mich gütigst bei Mises vermitteln wollten, daß er meine Sache im Auge
behalten
möchte?[6]
Was des weiteren die in meinem früheren Brief berührten wissenschaftlichen
Fragen angeht, so danke ich Ihnen bestens für die ausgesprochene Bereitwilligkeit,
mein Enzyklopädiereferat zu
lesen.[7]
Darf ich Ihnen diesbezüglich schon jetzt ei-
nige Fragen vorlegen betreffend einige Unstimmigkeiten, auf die ich bei der Arbeit
gestoßen bin?
Den angekündigten Sonderabdruck meiner vorläufigen Mitteilung zur Theorie
der Beugung lege ich
bei.[8]
Ich bitte Sie diese Mitteilung als Einleitung zu der er-
wähnten größeren Arbeit aufzufassen. Diese wird erst den Formelapparat bringen,
den ich wegen der Platzbeschränkung in den Akademieberichten nicht bringen
durfte. Die Anwendung auf die Strahlungstheorie ist natürlich vorläufig bloß Pro-
gra[mm]; es würde mich überaus freuen, wenn Sie Sich für dieses Programm inter-
essieren und mich durch Ideenaustausch fördern wollten.
Empfangen Sie last, not least meine herzlichsten Glückwünsche zur goldenen
Medaille der R. S. Diese Auszeichnung scheint mir auch politisch höchst bedeut-
sam.[9]
Dr. Lawson, der während des Krieges im Wiener Ra-Institut gearbeitet
hat,[10]
hat schon vor einiger Zeit aus England h[ier]her geschrieben, daß das Inter-
esse für Ihre Theorie die Versöhnung mit Deutschland anbahnen werde. Und er
wird hoffentlich damit Recht behalten, was ich von ganzem Herzen wünsche.
Ihr sehr ergebener
Kottler
ALS. [14 322]. There are perforations for a loose-leaf binder at the left margin of the document. A
note is appended in Einstein’s hand to Richard von Mises: “Lieber Kollege! Dieser Brief Kottlers hat-
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