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kam.[5]
Ich erlangte wohl meinen Gehalt als Beihilfe von der deutschösterreichi-
schen Regierung angewiesen und wurde für eine Neuanstellung vorgemerkt. Trotz-
dem konnte ich keine Anstellung erhalten und bekam auf ein neuerliches Gesuch
die Erledigung, daß ich wegen Ueberschreitung der Altersgrenze (die aber erst mit
70 Jahren beginnt) überhaupt nicht mehr angestellt werden könnte. Damit ist meine
und meiner Frau Lebensexistenz überhaupt in Frage gestellt und auch die Möglich-
keit wissenschaftlicher Wirksamkeit vernichtet. Ich lebe hier in Zwettl, einer ein-
samen Landstadt, mit meiner Frau in einem kleinen möblierten Zimmer und einer
noch kleinern Küche in den einfachsten Verhältnissen, wäre aber, wenn ich keine
oder eine ungenügende Pension von der oesterreichischen Regierung bekäme, dem
bittersten Mangel ausgesetzt, denn mein ganzes Vermögen besteht in einem Sech-
stelanteil eines Hauses in einem abgelegenen Stadtteil Prags. Nachdem ich also 16
Jahre an der Universität Leipzig und 20 Jahre im oesterreichischen Mittelschul-
dienst tätig war, soll ich der Möglichkeit meiner Lebensexistenz und wissenschaft-
lichen Wirksamkeit beraubt werden. Ich wende mich deswegen an Sie um Rat und
Hilfe, da ich ja auch in Deutschland 16 Jahren gewissermaßen im Staatsdienst tätig
war und wenigstens in [F]achkreisen meine wissenschaftlichen Leistungen aner-
kannt sind: insbesondere meine „Grundlagen einer Erkenntnistheorie“, Reproduk-
tion, Gefühl und Wille“, „das menschliche Glück und die soziale Frage“, „die
menschliche Erziehung“ und viele
Abhandlungen.[6]
Auch habe ich ein ziemlich
umfangreiches Werk fertig, in dem ich auch die Erkenntnistheorie der Naturwis-
senschaft behandle und darin den Relativitätsstandpunkt vertrete. Vor allem würde
ich natürlich eine Stellung anstreben, die mir weitere wissenschaftliche Arbeit und
Wirksamkeit ermöglichen würde. Könnten Sie irgendetwas für mich tun oder mir
einen Rat geben, so wäre ich Ih[n]en sehr
verpflichtet.[7]
In ausgezeichneter Hochachtung Ihr ergebener
Schubert-Soldern
ALS. [21 556]. Einstein wrote at the head of the document: “[Auf] letzter Seite,” referring presumably
to a nonextant response.
[1]Schubert-Soldern (1852–1935).
[2]Schubert-Soldern 1918.
[3]Wilhelm Wundt (1832–1920) was Professor of Philosophy at the University of Leipzig until his
retirement in 1917.
[4]Present-day Gorizia, Italy.
[5]By the Treaty of St. Germain-en-Laye (September 1919), Austrian Görz was ceded to Italy.
[6]See, e.g., Schubert-Soldern 1884. Schubert-Soldern’s paper, “Die erkenntnistheoretische Trag-
weite des Weber-Fechnerschen Grundgesetzes,” is in Einstein’s reprint collection, although with no
date or place noted.
[7]Apparently Einstein replied, in a nonextant letter of 1 May 1920, that he had turned to Anton
Lampa for advice on how to improve Schubert-Soldern’s desperate circumstances (see Doc. 387, and
Schubert-Soldern to Einstein, 12 May 1920).
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