D O C U M E N T 3 7 9 O C T O B E R 1 9 2 6 5 9 5 zelheiten zu befassen. Ich beschäftige mich fast nur mit Allgemeinem (sofern ich mich überhaupt beschäftige). Die Schule hat die seltsame Eigenart, daß sie sich nur mit Einzelheiten befaßt. Das hängt damit zusammen, daß die Lehrer lauter Spezia- listen ihres Faches sind und sich in die Einzelheiten desselben gerne verbohren. Man kann sich aber nicht in alle Fächer verbohren. Es wäre zu weitschweifig. Es existieren Schüler, die es tun, das sind aber keine Menschen sondern wandelnde Zeugnisnoten. Ich lese momentan ein sehr drolliges Buch. Es ist eine Jubiläumsschrift eines Musikverlages, in welches die bedeutendsten Komponisten der Jetztzeit Aufsätze und Betrachtungen geliefert haben.[3] Ich erblickt[e] das Buch in einer Auslage. Ich hätte es gerne mir angeschafft, jedoch war es 100 Proz. zu teuer. Da ging ich mit hochtrabender Miene in den Laden und herrschte den Verkäufer an, ich wünsche das Werk „zur Ansicht“. Ich habe es nun schon geraume Zeit zur Ansicht. Wenn ich es fertig gelesen habe, werde ich es zurückgeben. Das Buch ist, wie gesagt, sehr drollig. Man sieht daran, daß sich eigentlich jeder Komponist für die zentrale ¢Bewegung² Persönlichkeit hält. Sie sagen im Grunde nichts Bestürzendes und alle sagen ungefähr das gleiche, aber jeder verkündet es wie ein Evangelium. Viele dokumentieren ihre Vorliebe für Natürlichkeit dadurch, daß sie die Sätze mit kleinen Buchstaben anfangen oder die seltsamsten [-] und ver- zwacktesten Druckanordnungen treffen. Ich habe vorhin gesagt, jeder halte sich für die zentrale Persönlichkeit. Dies ist nur bedingt richtig. In Wirklichkeit haltet jeder Arnold Schönberg[4] für die zentrale Persönlichkeit und sich für den ersten seiner Apostel. Arnold Schönberg wird von allen vergöttert. Ich begreife das. Ich teile Deine Abneigung gegen Arnold Schönberg keineswegs.[5] Ich glaube, sie basiert auf mangelnder Fachkenntnis. Ich rate Dir dringend an, Arnold Schönbergs „Harmonielehre“ zu lesen.[6] Ich habe sie nicht gelesen. Nach den Aussagen von Schönbergs Anhängern ist sie so etwas wie eine zweite Bibel. Schönbergs Theorie geht von folgenden Behauptungen aus: Die bisherige Harmonie ist eigentlich nichts besonders Bevorzugtes. Sie ist auch nur Mittel zum Zweck: indem sie näm- lich ermöglicht, jeden ¢Grundton² Klang mit dem Grundton in Beziehung zu brin- gen, bewirkt sie eine gewisse Vereinheitlichung des Ganzen, „welche aber auch auf andere Weise erzielt werden kann“, wie Schönberg hastig hinzufügt und diese Be- hauptung durch ein kühnes Gleichnis von einer Fl[ug]maschine und der Schwer- kraft bekräftigt.[7] Arnold Schönberg schreibt also Stücke, in denen die zwölf Halbtöne als völlig gleichberechtigt dastehen. Er sieht immerhin Stücke von 8–10 Takten vor.[8] Deprimierend ist, daß Schönbergs Ideen auf den unbefangenen Leser etwas schauderhaft Überzeugendes haben. Ich könnte eigentlich auf Befragen nichts Wesentliches gegen sie aussagen. Ich hoffe, daß das nur davon herrührt, daß
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