7 8 4 D O C . 503 O N N E W T O N S M E C A N I C S Fünfzehnter Jahrgang 25. März 1927 Heft 12 [1] Newtons Mechanik und ihr Einfluß auf die Gestaltung der theoretischen hysik. Von A l b e r t E in s t e in , Berlin. ln diesen Tagen werden es zweihundert Jahre, daß Ne w t o n die Augen geschlossen hat. Da ist es Bedürfnis, dieses leuchtenden Geistes zu ge- denken, der wie kein anderer vor und nach ihm dem abendländischen Denken, Forschen und praktischen Gestalten die Wege gewiesen hat. Er war nicht nur ein genialer Erfinder einzelner führender Methoden, sondern er beherrschte auch das zu seiner Zeit bekannte empirische Material in einzigartiger Weise, und er war wunderbar erfinderisch bezüglich der mathematischen und physikalischen Beweisführung im einzelnen. Aus all diesen Gründen ist er unserer hohen Verehrung würdig. Diese Gestalt bedeutet aber dadurch noch mehr, als es der ihr eigenen Meisterschaft entspricht, daß sie vom Schicksal an einen Wende- punkt der Geistesentwicklung gestellt wurde. Um dies lebhaft zu sehen, müssen wir uns ver- gegenwärtigen, daß es vor Ne w t o n kein geschlos- senes System physikalischer Kausalität gab, das irgendwie tiefere Züge der Erfahrungswelt wieder- zugeben vermochte. Wohl hatten die großen Materialisten des griechischen Altertums gefordert, daß alles ma- terielle Geschehen auf einen streng gesetzlichen Ablauf von Atombewegungen zurückgeführt wer- den solle, ohne daß dabei von lebendigen Geschöpfen [2] Gewolltes als selbständige Ursache auftritt. Wohl hatte De s c a r t e s in seiner Weise dies Ziel wieder aufgegriffen. Aber dies blieb ein kühner Wunsch, das problematische Ideal einer Philosophen- schulc. Tatsächliche Erfolge, welche das Ver- trauen in die Existenz einer lückenlosen physi- kalischen Kausalität hätten stützen können, existierten vor Ne w t o n kaum. Ne w t o n s Ziel war die Beantwortung der Frage: Gibt es eine einfache Regel, nach welcher man die Bewegung der Himmelskörper unseres Planeten- systems vollständig berechnen kann, wenn der Bewegungszustand aller dieser Körper in einem Zeitpunkte bekannt ist? K e pl e r aus T y c h o d e Br a h e s Beobachtungen ermittelte empirische Gesetze über die Planetenbewegung lagen vor und forderten zu einer Deutung heraus1). Diese Gesetze gaben zwar eine vollständige Antwort darauf, wie sich die Planeten um die Sonne bewegen (Ellipsenform der Bahn, gleiche Radienflächen in gleichen Zeiten, Beziehung zwischen großen Halb- 1) Jeder weiß heute, was für ein Riesenfleiß dazu gehörte, diese Gesetze aus den empirisch ermittelten Bahnen zu finden. Aber wenige nur überlegen sich die geniale Methode, nach welcher K epl er die wahren Bahnen aus den scheinbaren, d. h. aus von der Erde aus beobachteten Richtungen, ermittelte. Nw 1927 achsen und Umlaufszeiten). Aber diese Regeln befriedigen doch nicht das Kausalitäsbedürfnis. Es sind drei logisch voneinander unabhängige Regeln, welche jeden inneren Zusammenhang ver- missen lassen. Das dritte Gesetz läßt sich zahlen- mäßig nicht ohne weiteres auf einen anderen Zentralkörper als die Sonne übertragen (es besteht z. B. keine Beziehung zwischen der Umlaufszeit eines Planeten um die Sonne und zwischen der Umlaufszeit eines Mondes um seinen Planeten). Das Wichtigste aber ist: Diese Gesetze beziehen sich auf die Bewegungen als Ganzes und nicht darauf, wie aus einem Bewegungszustand eines Systems der zeitlich unmittelbar folgende hervorgeht, es sind in unserer heutigen Sprechweise Integralgesetze und nicht Differentialgesetze. Das Differentialgesetz ist diejenige Form, welche allein das Kausalitätsbedürfnis des modernen Physikers voll befriedigt. Die klare Konzeption des Differentialgesetzes ist eine der größten gei- stigen Taten Ne w t o n s . Nicht nur der Gedanke war nötig, sondern auch ein mathematischer Formalismus, der zwar in Rudimenten vorhanden war, aber eine systematische Form gewinnen mußte. Auch diesen fand Ne w t o n in der Differential- und Integralrechnung. Dabei mag unerörtert bleiben, ob L e ib n iz unabhängig von Ne w t o n auf dieselben mathematischen Methoden gekommen ist oder nicht jedenfalls war ihre Entwicklung für Ne w t o n eine Notwendigkeit, indem sie zu Ne w t o n s Ge- danken erst die Ausdrucksmittel zu liefern hatten. Einen bedeutungsvollen Anfang in der Er- kenntnis des Bewegungsgesetzes hatte bereits G a l il e i gemacht. Er fand das Trägheitsgesetz und das Gesetz des freien Falles im Schwerefelde der Erde: Eine von anderen Massen nicht be- einflußte Masse (genauer: materieller Punkt) be- wegt sich gleichförmig und in gerader Linie. Die Vertikalgeschwindigkeit eines freien Kör- pers wächst im Schwerefelde gleichmäßig mit der Zeit. Für uns mag es heute scheinen, daß von G a l il e is Erkenntnissen bis zum Ne w t o n - schen Bewegungsgesetze nur mehr ein kleiner Schritt sei. Es ist jedoch zu bemerken, daß die beiden obigen Aussagen sich der Form nach auf die Bewegung als Ganzes beziehen, während Ne w t o n s Bewegungsgesetz eine Antwort auf die Frage gibt: Wie ändert sich der Bewegungs- zustand eines Massenpunktes in einer unendlich kurzen Zeit unter dem Einfluß einer äußeren Kraft. Erst durch Übergang zur Betrachtung des Vorganges während einer unendlich kurzen Zeit (Differentialgesetz) gelangt Ne w t o n zu einer Formulierung, welche für beliebige Bewegungen 23
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