DOCUMENT 610 SEPTEMBER
1918
867
610. From Max
Frischeisen-Köhler[1]
z.
Z. Bad
Leutenberg
i.
Thür[ingen]
Gasthaus
zum
Lamm. 5.
September
1918
Hochverehrter Herr
Professor,
dürfte ich
mir,
im
Namen
der Redaktion
der
Kantstudien,
einmal eine
ergebene
Anfrage
erlauben? Sie
wissen,
welch lebhaftes Interesse die
Philosophen an
der
Relativitätstheorie nehmen. Leider
entspricht
dieses Interesse nicht
immer
dem
Verständnis
derselben,
das die
Voraussetzung
ihrer
fruchtbaren Diskussion bildet.
Insbesondere sind die
Philosophen
im
allgemeinen
nicht in der
Lage gewesen,
den
Verallgemeinerungen
der Relativitätstheorie und
Ihrer
neu
entwickelten Gravitati-
onstheorie
zu
folgen.
Meine
Anfrage
und
große
Bitte
geht nun
dahin,
ob
Sie,
der
Sie in diesen
Dingen
das
erste
Wort
haben,
nicht
gelegentlich
Zeit
und Lust
hätten,
in den Kant-Studien
über
den Stand der Theorie in
einer
Form,
welche der
philo-
sophischen Fragestellung entgegenkommt,
zu
berichten. Uns
Philosophen
interes-
siert in erster
Linie,
was
durch die Relatitätstheorie
an
dem Gehalt des wissen-
schaftlichen Weltbildes
geändert wird,
ob
wir
es
bei ihr
nur
mit einer formellen
Wandlung
der
Betrachtung,
also schließlich
nur
mit einem
neuen
Arrangement
der
Symbole,
durch welche wir die
Erscheinungen
beschreiben,
oder mit einer sachli-
chen
Erweiterung
und
Umgestaltung
unserer
Naturauffassung zu
tun
haben. Die
andere
Frage,
die den
Erkenntnistheoretiker
beschäftigt, liegt
darin,
ob durch die
Relativitätstheorie
das
System
der
Kategorien,
durch
welches die Naturwissen-
schaft sowie die
Philosophie
des
18.
und
19.
Jahrhunderts die Wirklichkeit dach-
ten,
prinzipiell
erweitert,
resp.
erschüttert
worden
ist,
oder
ob
es
sich hier
nur
um
Modifikationen
handelt, die,
wie
gewisse
Neukantianer
(Natorp)
oder
gewisse
Po-
sitivisten
(Petzoldt)
glauben,
im Rahmen
des
Kritizismus
resp.
des Positivismus
ohne
Schwierigkeiten aufgenommen
werden
können,
resp.
daselbst schon
vorge-
sehen
sind.[2]
Bei
dem lebhaften
Gegensatz
der
Meinungen
wäre
es
für
uns
Philo-
sophen von größter Wichtigkeit,
die
Stellungnahme
des Urhebers dieser
Theorie,
die
nunmehr
schon eine reiche
Entwicklungsgeschichte besitzt,
kennen
zu
lernen.
Ermutigt
werde ich
zu
dieser meiner Bitte durch die Lektüre Ihres
Beitrages
in
der
"Kultur
der
Gegenwart“,[3]
der
mir
ein
Muster der
Form
zu
sein
scheint,
in
der
na-
turwissenschaftliche
Fragen
auch ohne
Einkleidung
in die
strenge Formelsprache
der theoretischen
Physik
behandelt
werden können. Ich
darf
aber
bemerken,
daß
der Leserkreis der Kant-Studien
zu
einem Teil
wenigstens so
weit mathematisch
geschult
ist,
daß
mathematische
Formulierungen,
wenn
sie
nur
nicht
zu speziell
und
schwierig
sind,
keineswegs ausgeschlossen
bleiben müßten. Weiter
möchte
ich
hinzufügen,
daß ich die nähere
Formulierung
des Themas und wie weit Sie
auf
die