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gar nicht hätte ziehen können ohne die ganze transzendentale Aesthetik zu zerstö-
ren. Die Aesthetik stünde dann nicht mehr selbständig neben der transzendentalen
Logik, sondern müßte in diese eingehen u. von ihr gleichsam aufgesogen werden,
was eine völlige Umstülpung der ganzen Vernunftkritik zur Folge haben würde.
Ich bedauere, daß meine Antwort so umständlich ausgefallen ist; aber ich kann
mich nicht einfacher ausdrücken, ohne Probleme zu beseitigen, die nach meinem
Urteil nicht verschleiert werden dürfen.
Vielleicht darf ich mir unter diesen Umständen für beiliegenden Entwurf um so
mehr Ihre freundliche Aufmerksamkeit für einen Augenblick erbitten. Der Aufbau,
den ich Ihnen vorlege, ist mir heute Nacht plötzlich deutlich geworden u. bedeutet
natürlich nicht mehr, als eine dem gegenwärtigen, noch immer höchst unvollkom-
menen Stande meiner Sachkenntnis entsprechende erste Annäherung an das, was
mir vorschwebt. Immerhin habe ich meine 7 Punkte noch nirgend in dieser Aufma-
chung gefunden.
Ich freue mich jetzt schon auf den Winter, wo ich mit unserem mathematischen
Privatdozenten, Herrn von Schmeidler, u. vielleicht auch unter gelegentlicher Mit-
wirkung von Herrn
Kossel,[2]
ein vierstündiges philosophisch-mathematisches
Seminar über die Relativitätslehre halten werde. Ich habe schon jetzt durch diese
Dinge ein Interesse an der analytischen Geometrie gewonnen, was ich selbst vor
einem halben Jahr noch kaum für möglich gehalten haben würde, u. möchte die Ge-
legenheit wahrnehmen dürfen, um Sie wissen zu lassen, wie groß die innere Berei-
cherung ist, die ich Ihnen schuldig geworden bin.
In größter Hochschätzung Ihr ergebener
Prof. Dr. Heinrich Scholz
Zur philosophischen Bedeutung der Relativitätslehre
A) Zur prinzipiellen Bedeutung
1) die Relativierung des Gleichzeitigkeitsbegriffs
2) die Einordnung des Raumes in die Zeit durch den Begriff der System-
zeit.
P. S. Ob auch umgekehrt von einer Einordnung der Zeit in den Raum gesprochen
werden darf, mithin von einer korrelativen Verschmelzung von Raum und Zeit,
vermag ich noch nicht zu entscheiden.
3) die Relativierung des principum contradictionis durch den r[ela]tivierten
Gleichzeitigkeitsbegriff, falls man dieses so formuliert (bezw. mit Aristoteles so
formulieren muß): Impossibile est idem simul esse et non esse.
B) Zur philosophiegeschichtlichen Bedeutung