379. Travel Diary Japan, Palestine, Spain [6 October 1922–12 March 1923] 6. Oktober. Nachtfahrt im überfüllten Zuge nach Wiedersehen mit Besso und Chavan.[1] An Grenze Frau verloren. 7. X Sonnenaufgang kurz vor Ankunft in Marseille. Silhuetten ernster flacher Häuser, von Pinien umgeben. Marseille enge Gassen. Üppige Frauen. Vegetier-Leben. Wir wurden von bieder scheinendem Jüngling ins Schlepptau genommen, in grässlichen Wirtshaus nächst der Bahn ab- gesetzt. Käfer im Morgenkaffee. Weg ins Schiffsbüro und zum alten Hafen nebst altem Stadtquartier. Am Schiff[2] energische Abfertigung des Spitzbuben, der be- leidigt abfuhr, nach federloser Fahrt zum Hafen auf Kofferwagen über ungeheuer holperiges Pflaster Marseilles. Dort nur mündliche Gepäckrevision. Freundlich empfangen von Schiffsoffizier. In Kabine behaglich eingerichtet. Jungen Japani- schen Arzt kennen gelernt, den ein Münchener Mediziner mit einem flammenden Ultimatum an die Gelehrten der Entente-Länder hinausgeworfen hatte,[3] 8. X. Beschaulicher Vormittag im Hafen. Freudige Begrüssung durch dicke rus- sische Jüdin, die mich als Juden erkennt. Mittags Abfahrt bei heller Sonne. Fast nur Engländer und Japaner auf dem Schiff. Stille, feine Gesellschaft. Nach Ausfahrt aus dem Hafen wunderbarer Blick auf Marseille und die es rahmenden Hügel Dann an grellen schroffen Kalkfelsen vorbei. Küste weicht langsam links zurück. Gespräch mit europäisiertem japanischem Arzt Miyake aus Fukuoka.[4] Nachmittags 4 Uhr Rettungsprobe. Alle Passagiere müssen—mit ihren in der Kabine aufbewahrten Rettungsgürteln angethan—an der Stelle zur Musterung er- scheinen, an der das für sie bestimmte Rettungsboot im Falle der Gefahr zu beman- nen ist. Schiffsmannschaft (lauter Japaner) freundlich, genau ohne Pedanterie, ohne individuelle Note. Er (der Japaner) ist unproblematisch, unpersönlich, füllt heiter die ihm zugefallene soziale Funktion aus, ohne Pretension, aber stolz über auf seine Gemeinschaft und Nation. Das Aufgeben seiner traditionellen Eigenart zugunsten der europäischen zehrt nicht an seinem Nationalstolz. Er ist unpersön- lich, aber nicht eigentlich verschlossen denn als vorwiegend soziales Wesen scheint er für seine Person nichts zu besitzen, das zu verschliessen oder zu verber- gen er das Bedürfnis haben könnte. 9. X. 4 Uhr Morgens grosser Krach. Ursache Schiffsreinigung. Grosse Reinlich- keit an Menschen und Sachen. Das Schiff ist wie abgeschleckt. Es wird schon bedeutend wärmer. Die Sonne erquickt mich und nimmt die Kluft zwischen „ich“ und „es“ weg. Ich beginne mit der Lektüre von Kretschmers Körperbau und [p. 1] [p. 1v] [p. 2]
Previous Page Next Page