5OO DOC. 321 REVIEW ELSBACH 1687 1924 DEUTSCHE LITER ATURZEITUNG 24. Heft 1688 ihrer Begriffe zu den Sinnen-Erlebnissen der Vergessenheit anheimficlen diese Wissen- schaft existierte dann im Sinne einer Natur- wissenschaft nicht mehr. Anders ist es bei der Mathematik, wie sie von den Mathe- matikern gewöhnlich aufgefaßt wird, wo man von der Beziehung zu den Erlebnissen absieht. Allgemein scheint es die Schwäche der Positivisten zu sein, daß bei ihnen die logische Selbständigkeit der Begriffe gegenüber den Sinnen-Erlebnissen nicht klar hervortritt, während die Idealisten gern vergessen, daß die Dignität der Begriffe letzten Endes einzig darin besteht, daß sie sinnliche Erleb- nisse verknüpfen. Kapitel IV handelt über die »Struktur der theoretischen Physik und die Aufgabe der theoretischen Philosophie«. Der Inhalt dieses Kapitels wird vom Verfasser selbst angedeutet durch den Satz: „In der Physik wird mittels selbständig dazu konstruierter Begriffe und Gesetze die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der einzelnen Erfah- rungen geordnet und zusammengeschlossen zu einem fest zusammenhängenden (und [3] meßbaren) Ganzen. (Die Worte „und meß- baren“ sind von mir eingeklammert, weil nicht logisch, da das aus Begriffen und Gesetzen bestehende Ganze nicht als „meßbar“möglich bezeichnet werden kann.) Der Inhalt dieses Kapitels dürfte von den meisten gebilligt werden es enthält eine lesenswerte Polemik gegen die rein positivistische Auffassung. Ich möchte nur den Wunsch beifügen, daß der »Konventionslehre« (gemeint ist wohl Poincarés erkenntnistheoretische Auffassung der Physik) in der zweiten Auflage mein- [4] Beachtung geschenkt werde. Im fünften Kapitel »Zusammenfassung der kritischen Philosophie und ihr Verhältnis zur Relativitätstheorie « findet man zunächst eine tief durchdachte Charakterisierung der Lehre Kants, soweit sie von den Neukanti- anern übernommen worden ist. Dann kommt [5] der Verfasser S. 281-301 auf einen Punkt zu sprechen, der für die Beurteilung der Be- ziehung der Kantischen Lehre zur Rela- tivitätstheorie, ja für die Beurteilung der Kantischen Lehre überhaupt, von ent- scheidender Bedeutung ist. Es findet sich da die These (nicht wörtlich zitiert) : der kritische Idealismus kann zur Naturwissen- schaft weder in Widerspruch geraten, noch [6] kann er eines ihrer Resultate vorwegnehmen. Denn diese philosophische Wissenschaft nimmt den Inbegriff der Begriffe und Rela- tionen der Naturwissenschaft genau so als das Material hin, von dem sic zu handeln hat, wie die Naturwissenschaft die Erfahrungstatsachen der Natur-Beobachtung. Daraus folgert der Verfasser, daß die einzelnen Thesen der kriti- schen Erkenntnistheorie überhaupt nicht dar- auf Anspruch erheben können, unabhängig vom jeweiligen Stande der Naturwissenschaft zu gelten. Ich glaube, daß der Verfasser sich hier weder mit Mohammed noch mit den Propheten in Übereinstimmung befinden dürfte. Nach meiner Überzeugung war es Kants und aller Kantianer Ziel, diejenigen apriorischen (d. h. nicht aus der Erfahrung deduzierbaren) Begriffe und Relationen auf- zufinden, welche jeder Naturwissenschaft zugrunde liegen müssen, weil ohne sie Naturwissenschaft überhaupt nicht denkbar ist. Angenommen, dies Ziel wäre wirklich erreichbar und erreicht, so könnten jene apriorischen Elemente mit keiner zukünftigen vernünftigen physikalischen Theorie in Wider- spruch geraten. Kant hielt dies Ziel für erreichbar und glaubte es erreicht zu haben. Hält man aber dies Ziel nicht für erreichbar, so sollte man sich wohl nicht »Kantianer« nennen. Bis vor einiger Zeit konnte man cs für halten, daß Kants System der apri- orischen Begriffe und Normen wirklich für alle Zeiten standhalten könne. Es war dies so lange zu verteidigen, als die spätere Natur- wissenschaft in ihrem für erwiesen gehaltenen*) Bestände nicht gegen jene Normen verstieß. Dieser Fall ist erst mit der Relativitäts- theorie unbestreitbar cingetreten. Wenn man nicht behaupten will, daß die Rela- tivitätstheorie der Vernunft widerstreitet, kann man an Kants System der apriorischen Begriffe und Normen nicht festhalten. Dies schließt zunächst nicht aus, daß man wenigstens an der Kantschen Pro- blemstellung festhält, wie es z. B. Cassirer tut. Ich bin sogar der Meinung, daß dieser Standpunkt sich durch keine Entwicklung der Naturwissenschaft strenge widerlegen läßt. Denn man wird immer sagen können, daß sich die bisherigen kritischen Philo- sophen bei der Aufstellung der apriorischen *) Eigentlich genügt es zur Widerlegung des Kant- schen Systems, eine logisch denkbare (mit einem denkbaren Erfahrungsmaterial übereinstimmende) The- orie aufzuzeigen, welche den Kantschen Normen wider- streitet. Ob die nichteuklidischen Geometrien dies leisteten, war strittig geblieben.
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