DOC. 463 PAN-EUROPE 719 -37O- Länder des Kontinents bestand, die Unvernunft der Situationen er- kannt haben, die die höchsten Werte dieses Teiles der Welt bedrohten und zerstörten und die aus einem Atavismus geboren wurden, der für einen Nichteuropäer schwer verständlich ist Wenn auch die grossen europäischen Kriege durch dynastischen oder wirtschaftlichen Egoismus veranlasst wurden, so berührten sie weder das ursprüngliche Wesen oder den Wert und die wirkliche geistige Mission der Nationen, noch ihre besondere Eigentümlichkeit innerhalb der europäischen Gesamtheit. Obgleich unabhängig von einer besonderen Friedenspolitik, sind gerade deshalb fast alle bedeutenden historischen Persönlichkei- ten des intellektuellen Europa Pazifisten. Sie sind es nicht nur schon ihrer ganzen Natur nach, sondern auch infolge der tiefen Logik ihrer Beschäftigung, sie sind es ferner, weil sie eine klare Vorstellung des europäischen Geistes haben und der Pflichten, die ihnen dieser auferlegt. Viele von ihnen haben sich sogar auf diesen natürlichen Pazifismus nicht beschränkt und haben ihn deshalb auch in der Politik praktisch betätigt. Ich möchte dabei an den französischen Abt Saint Pierre er- [1] innern, der gegen das Jahr 1715 herum vorschlug, dass die europä- ischen Staaten sich in einer Liga vereinigen möchten, die einen ewi- gen Frieden- schaffen und garantieren solle. Auch Kant machte in [2] dem zweiten Artikel seines Werkes über den ewigen Frieden folgen- den Vorschlag: „Das internationale Recht muss die Vereinigung der freien Staaten als Grundlage haben.” Das geistige Leben Europas bietet ein ganz anderes Bild, als das ist, das wir sehen, wenn wir es in seiner Politik der Kräfte und Interessen seiner verschiedenen Staaten betrachten. Gerade in denjenigen Ländern, in denen der verantwortungslose Ehrgeiz der Dynastien oder einiger herrschenden Kasten sich in der freiesten Form entwickelte, bestand in der Mehrzahl der Fälle ein ausgespro- chener Kontrast zwischen denen, die die Macht ausübten, und den leitenden Männern des geistigen und künstlerischen Lebens. Dieser Kontrast erklärt sich nicht nur durch die Verschiedenheit der Interessen, sondern entspringt auch jener feinen psychologischen Ursache, aus der die intellektuellen Persönlichkeiten hervorgehen, die im Sinne Goethes und Nietzsches „gute Europäer” sind, die sich Rechenschaft [3] über die Lächerlichkeit eines ärmlichen Patriotismus geben, der sie jenseits der Staatsgrenzen anhalten lassen möchte. In unserer Epoche, besonders nach den schrecklichen Erfahr- ungen des Weltkrieges, ist die Idee einer europäischen Gemeinschaft zu neuern Leben erwacht und vielleicht mit grösserer Wucht in Deutschland und in Frankreich, den beiden europäischen Nationen.
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