D O C U M E N T 4 7 2 M A R C H 1 9 2 9 6 7 5 bedarf man fachlicher Vorbereitung um sich ein Urteil zu gestatten. Wer nicht etwa glatt verrückt ist, wie Strindberg,[2] hütet sich der Wissenschaft zu widersprechen wenn er diese Bedingung nicht erfüllt hat. Für die Psychologie gilt das nicht. Ein Jeder ist Seelenkenner—ein Jeder weiß es, ohne sich darum bemüht zu haben, ebenso gut oder besser. Und da sie selbst so billig zu ihren Meinungen gekommen sind, glauben sie nicht, daß ein anderer es sich hat mehr kosten lassen. Zwar muß man nicht durchwegs bedauern, die Psychologie gewält zu haben. Kein großartigerer, reicherer, geheimnisvollerer Stoff, würdig jeder Bemühung des menschlichen Intellekts als das Seelenleben. Gewiß ist die Psychologie die herr- lichste aller Edeldamen, nur daß ihr Ritter ein unglücklich Liebender bleibt. Vor Zeiten dachte ich, daß wir den Physiker noch um anderes zu beneiden ha- ben: um die schöne Klarheit, Präzision und Sicherheit der obersten Begriffe seiner Wissenschaft wie: Kraft, Masse, Beschleunigung udgl. Ich habe mich seither be- lehren lassen, daß dies nur ein Anschein ist. Wenn uns jemand die Unbestimmtheit und Verschwommenheit unserer Libido, Energien, Triebe, Besetzungen vorwirft, pflege ich mich jetzt auf das Beispiel der Physik zu berufen und zu behaupten, daß klare oberste Begriffe zwar von Geisteswissenschaften gefordert werden können aber nicht von einer richtigen Naturwissenschaft. Wozu ich Ihnen all das schreibe? Zu meiner Rechtfertigung, um zu zeigen, wor- an ich dachte, als ich Sie einen Glücklichen nannte, den ich beneiden muß. Sie soll- ten doch nicht den Eindruck behalten, daß ich den Glückwunsch zu Ihrem Halbjahrhundert durch eine noch inhaltsärmere Formel umgegangen hatte. Wenn ich nur diese Absicht erreicht habe, so wäre es mir am liebsten, Sie vernichteten dieses nur für Sie bestimmte—monologische—Schreiben. Behalten Sie mich im Sinn als einen der sehr Vielen, die sich freuen, daß Albert Einstein zu ihrer Zeit lebt und arbeitet. Ihr herzlich ergebener Freud ALS. [97 471]. On Sigmund Freud’s personal letterhead. [1] A reference to a question posed by Einstein in Doc. 465. [2] The Swedish playwright August Strindberg (1849–1912). 472. To Eduard Einstein Berlin, 27. III. [1929][1] Lieber Tetel! Dein Brief erscheint mir nicht nur verständig, sondern ich ertappe mich darauf, schon oft Aenliches gefühlsmässig im Busen genährt zu haben.[2] Aber bisher war doch der Schwerpunkt Deiner Auffassung die Lehre von der Negierung der gegen- seitigen Hilfe und Förderung der Menschen. Wenn Du Dich gegen die Überschät- zung des Geistigen wendest, so gebe ich Dir völlig recht.[3] Auch hier haben die Griechen vorbildlich das richtige Mass gefunden. Ich habe an Deiner Schreiberei
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