1 9 8 D O C U M E N T 1 0 4 D E C E M B E R 1 9 2 7 104. From Eduard Einstein Zürich, 10. Dezember [1927][1] Lieber Papa! Ich habe mich mit Deinem Brief sehr gefreut. Deine Handschrift war mir bereits fremd geworden. Ich wäre absolut nicht abgeneigt, mit Dir im Winter zusammen zu kommen. Ich wäre bereit gewesen, einer Berliner Reise Strapazen auf mich zu nehmen, doch zerschlägt sich das Projekt an der Tatsache, daß Mama[2] angibt, Geld für Reise-Spesen zur Zeit nicht zu besitzen. Könntest Du Dir einen Abstecher ins Schweizerische Gebirge gestatten? Dein ältester Sohn wird, nebenbei bemerkt, um Weihnachten voraussichtlich mit Hängsel hier sein.[3] Gegen eine Vertagung bis Ostern hab ich aber auch keine prinzipiellen Bedenken. Meine Ferien sind zu Ostern drei, jetzt vom 25. an zwei Wochen. Bitte, überleg Dir die Sache. Freudig überrascht hat mich Dein Versuch, mich zu erziehen. Besonders daß Du mich tierähnlicher wünschst. Ich wußte bislang gar nicht, daß Du so gesunde An- schauungen hast. Ich vertrete seit langem die Überzeugung, daß jede Bemühung aus dem Tier Mensch den „guten Menschen“ oder den „guten Staatsbürger“ oder ein Wesen mit feinerm Bewußtsein zu kneten außer einer beträchtlichen Degene- ration nichts fruchtet. Ich dachte bisher immer, Du seiest so geistig eingestellt. Ich entsinne mich, daß Du, als ich einmal über den Unwert der Wissenschaft eine briefliche Äußerung wagte, mir geharnischt entgegenwarfst, ich hätte ein rechtes Sauherden-Ideal.[4] Du vertratst damals den argen Aberglauben, 1. Ethik könne nur gefühlsmäßig betrieben werden, 2. das Gefühl zwinge einen, in der Veredelung und Verästelung des Bewußtseins den höchsten Lebenszweck zu sehn. Ich ließ mich da- mals verblüffen. Ich denke, Du gibst heute zu: es ist Aberglaube. Wenn Du sagst, man könne mit Überlegung über prinzipielle ethische Dinge nicht entscheiden, so ist das, wie wenn der Moralist Nietzsche behauptet, die Naturwissenschaft sage über die Natur nichts aus.[5] Man kann sehr wohl die Ethik auf Überlegung grün- den, wenn man sich nur entschließt, einige Axiome anzuerkennen. Meine Axiome sind etwa diese: Das Leben hat keinen Endzweck, der außerhalb des Lebens liegt. Zweitens: Das Leben ist durchaus Selbstzweck und zwar hat die vollste Entfaltung des Lebens den höchsten Wert. („Vollste Entfaltung“ ist ein schwammiger Begriff. Ich kann ihn nicht genau umschreiben. Ich glaube, bei einem Tiger ist mehr Entfal- tung als bei einem Schimmelpilz, bei einem körperlichem Leben mehr als bei einem geistigen.) Diese Axiome scheinen mir nicht minder einleuchtend als der