8 8 D O C U M E N T 3 6 A U G U S T 1 9 2 7 36. To Boris Brutzkus[1] Berlin, 20. VIII. 27. Sehr geehrter Herr! Mir ist ziemlich gut bekannt, wie es in Russland zugeht. Wie können Sie glau- ben, dass ich als überzeugter Demokrat die Sklaverei billige, die in Russland herrscht?[2] Nie in meinem Leben habe ich dafür Partei genommen, so wenig als für den dem russischen System verwandten Fascismus. Allerdings glaube ich, dass die Männer, welche das russische Experiment in Scene gesetzt haben, von ehrli- chen Überzeugungen getragen waren. Aber ich habe nie gedacht, dass diese Methoden geeignet seien, eine gesunde Blüte der Wirtschaft und des Volkes herbei- zuführen.[3] Der wilde Fanatismus der in Russland führenden Männer ist wohl nur als Reak- tionserscheinung zu deuten gegen einen ebenfalls unerträglichen Zustand. Russ- land befindet sich nach meiner Auffassung in einer Art geistiger Epidemie, welche die Zurechnungsfähigkeit oder wenigstens das gesunde Urteil der Individuen so gut wie ausgelöscht hat. Ich glaube aber nicht, dass hier mit Gewalt etwas gebessert werden kann. Je weniger Störungen von aussen Russland erfahren wird, desto we- niger lang wird es dauern, bis es wieder gesund wird davon bin ich fest überzeugt. Denken Sie aber nicht, dass das, was ich hier sage, gewissermassen überheblich gefühlt sei. Der Zustand Europas während des Krieges war nicht minder krankhaft als der jetzige Zustand in Ihrem Vaterlande.[4] Überhaupt ist nach meiner Überzeu- gung kein Volk sicher davor, in ein analoges Unglück zu geraten. Ich weiss, dass es leicht ist, ruhig zu urteilen, wenn man Zuschauer ist und nichts zu leiden hat! Ihr A. Einstein. ALS (MWalB, Autograph Collection, folder 343). [45 688]. On personal letterhead. Addressed “Herrn Prof. Boris Brutzkus.” [1] Brutzkus (1874–1938) was a Latvian-Jewish agronomist and Professor of Russian Economy at the Russian Scientific Institute in Berlin. [2] For Einstein’s outspoken opposition to the “bloody terror” of the government policies in the Soviet Union, see “Introductory Letter to Letters from Russian Prisons, ca. 16 January 1925 (Vol. 14, Doc. 423). [3] For Einstein’s earliest recorded criticism of violent methods being employed in the Soviet Union, see Einstein to Emil Zürcher, 15 April 1919 (Vol. 9, Doc. 23). In 1922, he issued a joint appeal with other prominent intellectuals in behalf of the leaders of the Soviet Socialist-Revolutionary Party who had been condemned to death at their trial in Moscow (see Vol. 13, Chronology, entry for before 10 August 1922). [4] For an example of Einstein’s strong view that “[t]he world is now like an insane asylum” (“Die Welt ist jetzt wie ein Irrenhaus”) during World War I, see Einstein to Heinrich Zangger, after 27 December 1914 (Vol. 8, 41a, in Vol. 10).
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